Täglich erscheinen hierzulande über 300 Tageszeitungen. Täglich verschicken WhatsApp-User über 60 Mrd. Nachrichten. Es gibt 1,5 Mrd. tägliche Facebook-Nutzer, die jede Minute 4 Mio. Likes vergeben. Dies ist beeindruckend und gleichzeitig erschreckend. So behaupten manche Analysten, dass heute die meisten unserer Ansichten eher durch gemeinschaftliches Gruppendenken als durch individuelle Rationalität geprägt sind. Jedenfalls wird es in Zeiten von Social Media immer schwieriger, dem Meinungsdruck, der in einer sozialen Gruppe entsteht, zu widerstehen.
„Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr wir uns selbst lieben, gleichzeitig aber viel mehr Wert auf die Meinungen anderer statt auf unsere eigenen legen. … Wie viel mehr Glauben schenken wir den Meinungen, die andere über uns haben, und wie wenig unseren eigenen!“ (Mark Aurel, Selbstbetrachtungen)
Eine der Lebenshaltungen, die die Stoa ihren Anhängern anrät, ist die „Autarkie“ (αὐτάρκεια). Dies bedeutet nicht, dass dem Stoiker die Meinungen und Ansichten anderer egal sein sollten. Im Gegenteil: Denn zu einer ausgewogenen vernünftigen Situationsanalyse, die ein Stoiker jederzeit anstrebt, gehört auch die Berücksichtigung der Ansichten anderer. „Autarkie“ bedeutet vielmehr, sich dem Meinungsdruck einer Mehrheit oder einer Gruppe, der ich gefallen möchte, nicht zu beugen. Es bedeutet, nicht auf Meinungsmache – ob im Netz oder in den Medien – hereinzufallen, sondern ein eigenständiges Denken zu pflegen – orientiert an Logik und Vernunft als den Grundpfeilern der Stoa. Wir brauchen uns nicht ständig mit anderen Menschen zu vergleichen; wir müssen nicht mit jeder neuen Information ständig unsere Einschätzung verändern. Gelassenheit und innere Ruhe findet nur, wer seinen Weg erkennt und ihm treu bleibt.
„Autarkie“ verlangt aber nicht nur Unabhängigkeit von den Meinungen anderer, sondern ermutigt auch zur Unabhängigkeit von eigenen (!) inneren Verkrustungen. Ein Stoiker sollte immer wieder dazu bereit sein, sich selbst und die eigenen Prinzipien zu hinterfragen, sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen und ggf. abzuändern. Ein Stoiker wird daher nie an starren Ideologien festhalten und sich von fundamentalistischen Ansichten jeder Art freimachen. So wurden auch die Lehren der Stoa im Laufe der Jahrhunderte immer wieder hinterfragt und angepasst. Massimo Pigliucci nennt die Stoa „eine Philosophie mit offenem Ausgang“ und meint: „In einer Welt des Fundamentalismus und der starren Lehrmeinungen kann eine Weltsicht, die von Natur aus offen für Korrekturen ist, nur erfrischend sein.“ Wohl wahr!
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