Es mag überraschen, aber in der Lehre der Stoa geht es nicht nur um individuelles Glück, sondern auch um das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Denn das zentrale Mehrheitsprinzip in der Demokratie „funktioniert“ nur, wenn die Wähler die zu wählenden Alternativen kennen, das Für und Wider abwägen und letztlich zu einer vernünftigen Entscheidung gelangen. Der vernunftorientierte Stoizismus kann hierbei sehr hilfreich sein. Insofern kann man auch sagen: Demokratische Gesellschaften brauchen Stoizismus.
Das demokratische Prinzip, die Entscheidungsmacht einer Abstimmungsmehrheit zu überlassen, hat seine Vorteile, birgt aber auch enorme Risiken. Man fragt sich, was geschieht, wenn sich eine Mehrheit irrational verhält? Dies ist beileibe keine abwegige Idee. Viele Trends unserer Zeit spielen der Unvernunft in die Karten: So wird in unserer zunehmend komplexen Welt der Wunsch nach einfachen Lösungen immer drängender. Dadurch gewinnen politische Lösungen, die schlicht und radikal erscheinen, an Attraktivität. Zudem ist der Wunsch nach einfachen Lösungen oft gepaart mit dem Unwillen, sich mit Fakten auseinanderzusetzen. Denn diese sind meist vielschichtig und teilweise sogar widersprüchlich. Also werden die „unpassenden“ Fakten einfach ausgeblendet.
Wir alle kennen solche Fälle von notorischen Faktenleugnern mit holzschnittartigem Weltbild, denen wir mal mit Ärger, mal mit Mitleid begegnen. Solange sie Einzelfälle bleiben, stellen sie letztlich auch kein Problem dar. Besonders problematisch wird es aber, wenn kollektive Emotionen im Spiel sind, die die Vernunft einer ganzen Gruppe überlagern. Politisch gesteuert können sie zu einem Machtfaktor werden. Manche sprechen hier von der „Macht der Dummheit“. Der Kabarettist Josef Hader hat dazu seine ganz persönliche Verschwörungstheorie, die geht so:
„Es gibt tatsächlich eine große, weltumspannende Macht, die jeden von uns fest im Griff hat. Sie verursacht Weltkriege, ermöglicht Diktaturen und hat alle Wirtschaftskrisen der Weltgeschichte herbeigeführt. Sie heißt Dummheit. Denn ohne die große, allumfassende Dummheit wären böse Menschen ein individuelles Problem. Dummheit ist viel mächtiger als zum Beispiel Gier, Skrupellosigkeit, Machtstreben und andere schlechte Eigenschaften, die für die Erklärung menschengemachter Katastrophen gerne herangezogen werden. Diktatoren, Religionsführer und Wirtschaftsbosse wären ziemlich erfolglos ohne die Dummheit derer, die begeistert mit marschieren, jeden Unsinn glauben oder sich gefallen lassen, dass weltumspannende Konzerne keine Steuern zahlen. Ohne die große, allumfassende Dummheit wären böse Menschen ein individuelles Problem und bekämen keine Gelegenheit, erfolgreiche Massenmörder zu werden.“
Für die Stoiker sind die Menschen vernunftbegabte Wesen, die das Potenzial haben, Weisheit und Tugend zu erlangen. Auch wenn es keine von Natur aus bösen Menschen gibt, heißt das natürlich nicht, dass es keine bösen Taten gibt. Allerdings tun die Menschen – nach Überzeugung der Stoiker – nicht absichtlich Böses; sie tun es aus Unwissenheit, aus Dummheit. Diese stoische Einstellung soll weder die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) verharmlosen noch die harte Realität verleugnen. Sie will uns vielmehr vor Augen führen, welche negativen Auswirkungen es hat, wenn Menschen Vernunft und Weisheit „ausschalten“. Wenn das Böse also das Ergebnis von Dummheit bzw. von mangelndem Nachdenken ist, muss der Stoiker hier ansetzen – mit Vernunft und Weisheit. Der Stoiker-Kaiser Mark Aurel gibt dazu die Stoßrichtung vor:
„Die Menschen sind für einander da. Also belehre oder dulde sie.“
Dabei legt der Stoizismus keineswegs fest, welche Position wir im gesellschaftspolitischen Diskurs einnehmen sollen. Die Stoa ist selbst frei von jeder ideologischen Ausrichtung. Aber sie ist ganz klar in ihrer Forderung, dass alle wichtigen Entscheidungen für unsere Gesellschaft immer von der Vernunft gesteuert sein sollten. Dies gilt für uns selbst, betrifft aber auch Situationen, in denen andere Menschen unvernünftig handeln. Der Stoiker sollte hier immer wieder – klar vernehmlich – anmahnen, vor dem Handeln den Verstand einzuschalten und wichtige Entscheidungen immer zunächst sorgsam zu durchdenken. Dies mag banal klingen – ist es aber nicht, wenn man sich schon einmal in einer Gruppe von Menschen befunden hat, die – aufgeputscht durch einen Redner – wirre Phrasen skandieren und jede faktenbasierte Diskussion höhnisch ablehnen. Auch wenn hier eine einzelne mahnende Stimme nicht durchdringt, sollten wir doch immer wieder dafür werben, dass in der demokratischen Mehrheitsgesellschaft die Vernunft und Weisheit nicht auf der Strecke bleiben. Denn zu oft geschieht es, dass wir Handlungen oder Entscheidungen gerne wieder zurücknehmen würden, weil wir ihre Folgen nicht bedacht haben.
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