Wir alle kennen wohl – zumindest in den Grundzügen – das Märchen der Brüder Grimm vom „Hans im Glück“: Hans hat sich – als Lohn für sieben Jahre harter Arbeit – einen Klumpen Gold verdient. Auf dem Weg nach Hause tauscht er diesen zunächst gegen ein Pferd, das Pferd dann gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, und die Gans gibt er schließlich für einen Schleifstein her, der ihm am Ende auch noch in einen Brunnen fällt.
Das Märchen löst bei den meisten Lesern zunächst Empörung aus – Empörung über den naiven und allzu sorglosen Hans, den Einfaltspinsel, der sich immer wieder über den Tisch ziehen lässt und offenbar nichts daraus lernt! Was für ein Loser! Dieses Märchen irritiert. Es entspricht ganz und gar nicht der uns bekannten, gängigen Logik. Es ist auch kein typisches Märchen – so ganz ohne Feen und böse Hexen. Nicht einmal sprechende Tiere kommen vor, sondern nur „echte“ Menschen, die einzig auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und den gutmeinenden Hans übers Ohr hauen. Für ein Märchen klingt dies alles sehr realitätsnah!
Wir als Leser, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen (wie wir meinen) wissen natürlich genau, was wir – anstelle des unfähigen Hans – alles getan haben würden, um unseren Reichtum (den Klumpen Gold oder zumindest das Pferd oder die Kuh) erfolgreich in Sicherheit zu bringen! Wir würden uns doch wohl nicht so dumm anstellen wie dieser Hans!
Jedoch heißt das Märchen nicht „Der dumme Hans“. Seine verblüffende Botschaft lautet vielmehr: Dieser Hans hat das Glück gefunden! Tatsächlich hat Hans bei jedem Tausch das Empfinden, dass er jeweils genau das erhält, was er sich von Herzen wünscht. Er fühlt sich nach jedem Tausch immer mehr „wie ein Sonntagskind“! Und selbst als ihm zuletzt der noch verbliebene Stein in einen Brunnen fällt und er mit leeren Händen dasteht, sieht er sich als wahrhaft glücklich an! Auf den zweiten Blick wird deutlich: Dies ist keine Geschichte vom Scheitern, es ist tatsächlich eine Erfolgsstory! Man kann sogar neidisch werden auf diesen „Lebenskünstler“ Hans, dem es immer wieder gelingt, leidvolle Enttäuschungen in tröstliche Gewissheit umzuwandeln.
Man darf zwar bezweifeln, dass die – eher zu Strenge und Selbstdisziplin neigenden – Stoa-Lehrer Hans als einen guten Schüler ihrer Lehre angesehen hätten. Jedoch verkörpert das Märchen vom „Hans im Glück“ sehr gut einige wichtige stoische Ideale. Und Stoa-Schüler können aus dem Verhalten seines Protagonisten einiges für ihre Haltung zum Leben lernen:
1. Stoiker wissen: Wir können das, was wir an Gütern erlangt haben, nicht auf Dauer festhalten. Selbst Reichtum ist flüchtig. Daher sollten wir uns – immer wieder – auf das Loslassen vorbereiten.
„Was du bekommst, nimm ohne Stolz an, was du verlierst, gib ohne Trauer auf.“ (Mark Aurel)
Hans ist insofern für Stoa-Schüler ein gutes Vorbild, ein wahrer Meister des Loslassens.
2. Hans empfindet Glück, weil er sich nach und nach von seinem Besitz und den damit verbundenen Zwängen befreit. Dass der materielle Wert seines Besitzes mit fortschreitender Wegstrecke immer mehr schrumpft, empfindet er nicht als Verlust.
„Ein weiser Mensch kann nichts verlieren. Er trägt alles in sich.“ (Seneca)
Je mehr Ballast Hans abwirft, umso näher kommt er seinem Zuhause – und ist an seinem Ziel schließlich ganz frei von materieller Bindung.
3. Hans hat offenbar begriffen, dass sein Glück nicht davon abhängt, ob er auf seinem Lebensweg ein „gutes Geschäft“ macht. Während wir noch glauben, dass Gewinnmaximierung automatisch zu mehr Glück führt, zeigt Hans mit seinem Beispiel, dass Glück – im Gegenteil – erst durch Überwindung einer materialistischen Weltsicht erfahrbar wird. Dies entspricht einer stoischen Lebenshaltung, die nicht auf äußere, sondern ganz auf innere Werte setzt.
„Vertraue nicht auf deinen Ruf, auf dein Geld oder deine Stellung, sondern auf deine innere Stärke“ (Epiktet)
Am Beispiel vom „Hans im Glück“ bekommen wir vor Augen geführt, dass nur die innere Einstellung entscheidet, ob wir zufrieden mit unserem Leben sind. Als Hans an das Ziel seiner Reise kommt und sein Zuhause erreicht, sind seine Wünsche erfüllt, er ist innerlich ganz zufrieden. Am Ende heißt es: „So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war.“
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Hallo lieber Herr Schmitz,
erst einmal vielen Dank für den tollen und inspirierenden Blog und den regelmäßigen Newsletter.
Den Eintrag über Hans im Glück als stoisches Vorbild kann ich aber nur sehr begrenzt zustimmen. Ich habe 2 kleine Mädels und das Märchen diverse Male hören müssen 🙂
Es ist ja so, dass in dem Märchen Hans Menschen begegnet, die in ihm den Wunsch nach dem jeweiligen Tier erst einreden. Es sind immer die gleichen Phasen:
1. Er ist glücklich mit dem was er hat.
2. Er lässt sich von einem anderen Menschen einreden, dass er was anderes haben muss.
3. Er handelt, wie die anderen es wollen, tauscht also
4. gehe zu 1.
Stoisch vorbildlich ist für mich nur Phase 1.
Wenn ich es mir recht überlege, beschreiben die Phasen sogar auch die moderne Konsumindustrie:
– Neues Handy ist toll
– Werbung sagt, ich muss ein anderes haben
– kaufe ein anderes
– etc.
Lieben Gruß aus Wuppertal
Hallo Karsten,
den Typus des „Hans im Glück“ kann man sicher unterschiedlich interpretieren. Aber es ist m.E. ein Missverständnis – zumindest nach der Intention des Märchens – wenn man ihn als idealen Kandidaten für die Konsumindustrie ansieht, der sich von anderen ständig einreden lässt, etwas anderes haben zu wollen, und somit wahllos von einem zum nächsten Konsumartikel springt. Was Hans für mich als Stoiker zu einem Vorbild macht, ist, dass er – entgegen den Hoffnungen der Konsumindustrie – ganz unabhängig von Besitz mit seinem Leben zufrieden ist. Seine positive Lebenshaltung bleibt unverändert, auch wenn sein Besitz immer weniger „wert“ ist. Er hat keinerlei Ehrgeiz, immer mehr anzuhäufen. All die im Märchen beschriebenen materiellen Dinge (die für die Menschen seiner Zeit eigentlich einen enormen Wert haben), scheinen ihm nichts zu bedeuten und beeinflussen seine Lebensfreude nicht. Unter diesem Aspekt finde ich diese klassische Märchenfigur gerade auch für Stoiker interessant.
Das ist ein super toller Kommentar! Ich selbst bin auch davon überzeugt, dass im Streben nach Besitz kein Glück zu finden ist, und trotzdem fühlte sich das Märchen für mich nie richtig an.
Jetzt lese ich deinen Kommentare und erkenne: das liegt genau an den deinen Punkten 2 und 3.
Danke sehr 😊
Nicht umsonst war Hans 7 Jahre in der Lehre. Diese waren seine Lehrjahre, die ihm sein weiteres Leben möglich machenten. Auf seiner Reise wurde er scheinbar betrogen, belogen, und trotzdem konnte er weitergehen mit leichten Sinn. Das Liquide im Leben erkennenend und den Ballast abwerfenend. Immer wissend das seine Mutter, auch ein Sinnbild, das Ziel ist.
Es gibt keine Unterscheidungsmerkmale des aufgeklärten Menschen. Erkennbar ist nur Unwissenheit, nicht Erleuchtung. Nicht einmal ein aufgeklärter Mensch erhebt den Anspruch, etwas Besonderes zu sein. Alle, die ihre Größe und Einzigartigkeit verkünden, sind nicht erleuchtet.Sie verwechseln eine ungewöhnliche Entwicklung mit Bewusstsein. Der Erleuchtete zeigt keine Neigung zu verkünden, er sei ein erleuchteter Gottmensch. Er hält sich für völlig normal, seiner wahren Natur treu. Zu verkünden, dass man eine allmächtige, allwissende und allgegenwärtige Gottheit ist, ist ein klares Zeichen von Unwissenheit.