Warum bin ich der geworden, der ich bin? Denkt man an den eigenen Lebensweg zurück, lassen sich immer wieder Stellen erkennen, an denen man an einem Scheideweg stand. Wohin soll man sich wenden? Es werden Argumente abgewogen, die Fürs und Widers gesammelt, Rat eingeholt … Am Ende geht es aber immer wieder um die Frage: Was für ein Mensch möchte ich sein? Der antike Stoiker Epiktet bringt es auf den Punkt:
Mach dir zunächst klar, was du sein möchtest; und dann tue, was du tun musst.
In solchen Situationen kann die Sage von „Herakles am Scheideweg“ hilfreich sein. Für Stoiker war sie jedenfalls schon immer ein Symbol für die epische Herausforderung, sich zu entscheiden, was für ein Mensch wir sein wollen. Der Stoiker und Psychotherapeut Donald Robertson beschreibt die Sage in seinem Buch „Denke wie ein römischer Herrscher“ folgendermaßen: Eines Tages wandelte Herakles als junger Mann auf einem unbekannten Pfad, als er an eine Weggabelung kam, an der er sich niedersetzte und über seine Zukunft nachdachte. Unsicher, welchen Pfad er nehmen sollte, tauchten vor ihm plötzlich zwei mysteriöse Göttinnen auf. Die erste, Kakia, war eine schöne, verführerische Frau in prächtigen Gewändern. Sie drängte sich vor ihre Gefährtin und flehte Herakles inständig an, er möge ihrem Pfad folgen. Er führe, so behauptete sie, zum leichtesten und angenehmsten Leben und sei der kürzeste Weg zu echtem Glück. Sie sagte ihm, er könne leben wie ein König, ohne Sorgen, und werde einen Luxus genießen, den er sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen vorstellen könne. Nachdem er ihr eine Weile zugehört hatte, trat die zweite Göttin, Arete, an Herakles heran, eine weniger prahlerische und bescheidenere Frau, die aber durch ihre natürliche Schönheit bestach. Zu Herakles Überraschung war ihr Gesichtsausdruck ernst. Sie warnte ihn, dass ihr Pfad in eine ganz andere Richtung führen werde: Er sei lang und gewunden und erfordere große Anstrengung. Sie sagte ihm rundheraus, dass er Leid erfahren würde. Herakles würde seine Weisheit und seinen Gerechtigkeitssinn walten lassen müssen, um große Widrigkeiten mit Tapferkeit und Selbstdisziplin zu überwinden. Große Hindernisse durch mutige und ehrbare Taten zu überwinden, so die Göttin, sei der einzig wahre Weg zu einem erfüllten Leben. Herakles traf drauf seine berühmte Entscheidung, dem Pfad der Arete bzw. der „Tugend“ zu folgen und sich nicht von Kakia, der „Lasterhaftigkeit“, verführen zu lassen. Bewaffnet nur mit einem Holzknüppel und in das Fell eines Löwen gehüllt, bewältigte er anschließend zwölf höchst schwierige Aufgaben. Die Moral von der Geschichte lautet, dass es oft einer geradezu herkulischen Anstrengung bedarf, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Es ist keine Überraschung, dass Herakles der von den stoischen Philosophen am meisten bewunderte mythische Held ist. Seine Mühen verkörpern ihre Überzeugung, dass es erfüllender ist, freiwillig Mühsal auf sich zu nehmen und Charakterstärke zu kultivieren, als den leichten Weg zu wählen, indem man Müßiggang und ein komfortables Leben pflegt.
Tatsächlich bietet die Sage von „Herakles am Scheideweg“ eine gute Gelegenheit, um zu verstehen, was die Philosophie der Stoa eigentlich unter Lebensglück (Eudaimonia) versteht. Was heute – vor allem in den Medien – zumeist als Lebensglück dargestellt wird – Spiel, Spaß und Spannung, Party und Abenteuer, Romantik und Drama – ist nicht das, worauf die Stoa abzielt. Auch das Leben des Herakles – damals Vorbild der antiken Stoiker – mit seinen filmreifen Heldentaten kann heute einen falschen Eindruck von Eudaimonia erwecken. Tatsächlich wird – im stoischen Idealfall – eher ein langsam und ruhig dahinfließendes Leben (euroia biou) als gelungen angesehen, in dessen Verlauf man in aller Seelenruhe (ataraxia) sein eigenes Potenzial entfalten kann. Eudaimonia ist daher etwas, was man nur in sich selbst findet. Es ist eine innere Befriedigung, die daraus entsteht, dass man sein eigenes Potenzial ausschöpft. Nur dadurch kann sich ein tiefgehendes dauerhaftes Gefühl der Erfüllung einstellen. Und nur dadurch haben wir die Chance, der Mensch zu werden, der wir sein wollen.
Die Stoa bietet dafür einen Wegweiser, eine Art Kompass, der uns eine Standortbestimmung ermöglicht und eine Richtung weist. Natürlich bedarf es einiger Übung, bis man den Kompass lesen kann, aber man kann sich an den Scheidewegen des Lebens darauf verlassen und sich immer wieder Orientierung verschaffen. Wir müssen nicht mehr ziellos durch die Gegend laufen. Wir können bemerken, wenn wir im Kreis laufen. Wir können feststellen, ob und welche Fortschritte wir machen. Wenn für das Leben der Satz gilt: Der Weg ist das Ziel, dann ist ein Kompass auf diesem Weg das wichtigste Utensil, um schließlich in der Lage zu sein, auf ein erfülltes Leben zurückzublicken – ein Leben, dessen verzweigte steinige Wegstrecke wir als einen Weg des ständigen Fortschritts wahrnehmen können.
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