Eine historische Verbindung zwischen der antiken Lehre der Stoa und dem Buddhismus ist nicht belegt. Zwar gab es in der Antike zwischen Griechenland und Indien eine geographische Brücke durch das Perserreich und kulturelle Berührungspunkte seit den Feldzügen Alexander des Großen. Jedoch ist ganz unsicher, ob es zu einem Austausch oder gegenseitigen Einfluss von Gedanken und Ideen der Lehren des Buddha und der Stoa gekommen ist. Dennoch ist bemerkenswert, dass sich Gemeinsamkeiten an zentralen Stellen des Gedankengebäudes der Stoa wie des Buddhismus – insbesondere in der Ausprägung des Zen – finden. Dabei geht es um unsere Geisteshaltung, unsere Einstellung zum Leben. Vor allem spielt bei beiden der Grundsatz eine wichtige Rolle, dass unser Leid auf Fehleinschätzungen der Welt beruht oder durch die Überbewertungen externer Dinge verursacht wird.
Achtsamkeit in Zen und Stoa
Für beide Lehren ist ein Zustand der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit die wichtigste Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Im Zen-Buddhismus ist Achtsamkeit der Schlüssel. Achtsam sein heißt, voll und ganz das wahrzunehmen, was im eigenen Inneren und um einen herum vorgeht. Achtsamkeit erfordert innere Ruhe. Durch verschiedene Techniken versuchen beide Lehren, eine Art Seelenruhe zu erreichen, die eine innere Unerschütterlichkeit gegenüber allen Widrigkeiten des Lebens bewirkt.
„Wenn die Seele zur Ruhe kommt, tun es auch die anderen Dinge.“ (Epiktet)
Die alten Stoiker benutzten den Begriff Prosoché (προσοχή), was Aufmerksamkeit oder Wachheit bedeutet. M.E. ist Achtsamkeit die bessere Übersetzung, denn es verdeutlicht, dass damit ein permanenter Zustand, eine Grundhaltung gemeint ist, die der Stoa-Kenner Pierre Hadot so beschreibt: „Die Grundhaltung des Stoikers ist diese kontinuierliche Aufmerksamkeit, eine konstante Spannung, ein Bewusstsein, eine Wachsamkeit in jedem Augenblick.“ In einfachen Worten heißt dies: immer ganz „bei der Sache sein“. Praktischbedeutet es, dass der Stoiker versucht, sich immer auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren. „Die Wachheit ist auf den gegenwärtigen Moment bezogen. Das bedeutet nicht, dass an die Vergangenheit oder die Zukunft nicht gedacht werden dürfte, sondern vielmehr, dass vor allem der gegenwärtige Moment im Fokus der Aufmerksamkeit steht.“ (Günther Holzinger).
Ähnlich denkt der Zen-Buddhist, indem er versucht, seine Aufmerksamkeit auf die Wunder des Alltäglichen und die Möglichkeiten im Hier und Jetzt zu lenken. Beiden geht es nicht darum, die äußere Welt zu verändern, sondern die Welt in einem anderen Licht zu sehen. Beide betrachten das Schicksal nicht als einen Feind von außen, mit dem es zu kämpfen gilt. Der Schlüssel liegt vielmehr darin, sich auf das Leben, wie es jetzt ist, einzulassen, ganz gleich, wie ungenießbar es sich darbieten mag. Ob wir uns glücklich oder unglücklich fühlen, hängt von unserer Einstellung zum Leben, von unserer persönlichen Wahrnehmung der Umstände ab, nicht von den Umständen selbst.
Das Zen-Gleichnis vom unglücklichen Wanderer
Dies verdeutlicht das bekannte Zen-Gleichnis vom unglücklichen Wanderer. Dieser ist – auf der Flucht vor einem hungrigen Tiger – eine Steilwand hinunter gesprungen. Nun hängt er an einer Wurzel über dem tödlichen Abgrund, während oben am Klippenrand der Tiger wartet. Zu allem Unglück beginnt auch noch eine kleine Maus an der Wurzel, die sein einziger Halt ist, genüsslich zu nagen. So an der Steilwand hängend, entdeckt der Mann gleich neben sich eine große, reife Erdbeere. Während er sich mit einer Hand an der Wurzel festhält, pflückt er mit der anderen die Erdbeere und steckt sie in den Mund. Wie süß sie schmeckt! Die Geschichte zeigt: Weder hat Gott den Tiger geschickt noch die Erdbeere gepflanzt. Er ist nicht schuld an meiner Misere! Aber Tiger und Erdbeere sind (wie ich) Gottes Geschöpfe, die ich annehmen muss bzw. darf. So kann ich mich selbst in einer lebensfeindlichen Umwelt an den kleinen Annehmlichkeiten des Alltags erfreuen.
Ein Stoiker könnte diesem Zen-Gleichnis viel abgewinnen. Denn eine grundlegende stoische Strategie ist die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Dingen, über die wir Kontrolle haben, und Dingen, über die wir keine Kontrolle haben. Diese Form der Unterscheidung benötigt stetige Aufmerksamkeit über unsere eigenen Gedanken und Urteile, so dass man dies bereits als Achtsamkeitstraining bezeichnen kann.
„Es gibt nur einen Weg zum Glück, und der besteht darin, alles, worauf du keinen Einfluss hast, aufzugeben, darüber hinaus nichts als deinen Besitz zu betrachten, alles andere Gott und dem Schicksal zu überlassen.“ (Epiktet)
Das Stoa-Gleichnis vom Festbankett
Dies verdeutlicht der große Stoa-Lehrer Epiktet in seinem Gleichnis von einem Festbankett, bei dem die Gäste um eine große Tafel herumsitzen und geduldig warten müssen, bis sie an der Reihe sind.
„Denke daran, dich im Leben stets so zu verhalten, als seist du bei einem Festbankett. Wenn etwas, das herumgereicht wird, bei dir ankommt, dann nimm dir eine bescheidene Menge. Es geht vorbei? Halte es nicht an. Es ist noch nicht bei dir angekommen? Lass dein Verlangen danach nicht überhand nehmen, sondern warte, bis es bei dir ankommt. So verhalte dich mit Kindern, dem Ehepartner, mit deiner beruflichen Position, mit Reichtum – und eines Tages wirst du es verdient haben, an einem Festbankett mit den Göttern teilzunehmen.“ (Epiktet)
Die Stoiker sind davon überzeugt: Das Leben ist eine reich gedeckte Tafel und hält genug Möglichkeiten für jeden bereit. Wir müssen nicht damit hadern, dass andere schon einen vollen Teller haben; „Futterneid“ hilft uns nicht weiter. Wenn wir dagegen achtsam sind, werden wir erkennen, was in unserer Reichweite steht, und können genießen, was bereits auf unserem Teller ist. Und vielleicht werden wir sogar überrascht, wenn uns jemand, von dem wir es gar nicht erwartet hätten, eine volle Schüssel reicht. Achtsamkeit hilft dabei, dass der Blick auf die Möglichkeiten des Lebens – die gedeckte Tafel – nicht verstellt wird. Man muss dem Leben nichts mit Gewalt und auf Kosten anderer abringen. In dieser Einschätzung sind sich Stoa und Zen-Buddhismus einig.
Literatur zum Thema: Antonia Macaro, More than Happiness – Buddhist and Stoic Wisdom for a Sceptical Age (213 Seiten)
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