Was also ist der entscheidende Unterschied? Was macht eine Philosophie wie die Stoa so attraktiv für Menschen, die sich zuvor einer Religion zugewendet hatten? In den Religionen geht es – in ihren Kerninhalten – immer um absolute Wahrheiten, an deren Richtigkeit und Wirklichkeit jeder Anhänger bedingungslos glaubt (oder glauben sollte). Natürlich sind auch kritische Betrachtungen und lebendiger Streit unter Religionsanhängern erlaubt (und unabdingbar). Aber ihren dogmatischen Kern hält jede Religion für absolut wahrhaftig und unanfechtbar. Die Gewissheiten, die die Religionen verbreiten, sind beruhigend und geben Halt. Jedoch wird die Beanspruchung absoluter Wahrheit problematisch, wenn sie durch religiöse Gruppen oder kirchliche Institutionen mit Sanktionen durchgesetzt werden. Ein solchermaßen sanktionierter Glaube stößt heute immer mehr Menschen bitter auf. Der Stoizismus verbreitet dagegen keine absoluten Gewissheiten. Vielmehr war die stoische Philosophie immer ein offenes Angebot mit Denkanstößen und Techniken, um das eigene Lebensglück selbst zu finden.
Gleichwohl kann ich als praktizierender Stoiker die Lehren des Christentums und des Buddhismus wertschätzen. Generell sind die antiken Philosophien keinesfalls als – atheistischer – Gegenentwurf zu Religionen zu verstehen. Denn Theologie und Philosophie sind entwicklungsgeschichtlich stark miteinander verschränkt, sie bauen aufeinander auf. Die Entwicklung der großen Religionen ist gar nicht ohne die Einflüsse der großen philosophischen Denker zu verstehen.
Ein gutes Verständnis vom Verhältnis der Stoa (als Lebensphilosophie) zu den Religionen bietet m.E. Hans Küngs Idee vom „Weltethos“. Danach gibt es gemeinsame ethische Werte in allen Teilen der Gesellschaft für ein respektvolles Miteinander über die Grenzen von Religionen und Kulturen hinweg. Ganz wichtig dabei: Die verschiedenen Religionen und Philosophien sollen nicht zu einem Einheitsbrei „verrührt“ werden. Sie haben weiter ihre individuelle Berechtigung. Denn zu der richtigen ethischen Grundhaltung gibt es immer verschiedene Zugänge, theologische oder philosophische, die jede/r für sich selbst finden muss. Allerdings sollte jede Lehre unbedingt darauf verzichten, anderen die eigene Vorstellung davon, was ein gelungenes Leben ist, überstülpen zu wollen! Darin ist die Lehre der Stoa vorbildlich. Sie fordert keinen unbedingten „Glauben“ (es gibt nicht so etwas wie „die zehn Gebote“ der Stoa); sie gibt einem lieber Werkzeuge an die Hand, um eigene Erkenntnisse zu gewinnen und sich selbst auszuprobieren. Sie fordert uns heraus; aber sie fordert keine Perfektion. Sie lässt Raum für eigene Erfahrungen und ermöglicht daher Orientierung. Das macht sie letztlich so attraktiv!
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