Schon vor 2.000 Jahren ist es den Menschen – wie heute – schwer gefallen, objektive Tatsachen und subjektive Meinungen auseinanderzuhalten, Fakten und ihre Bewertungen klar zu trennen. Eine der wichtigsten Lehren des Stoizismus ist daher die Unterscheidung zwischen einer (wahren) Tatsache und unserer persönlichen Bewertung bzw. unserer Meinung dazu.
„Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.“ (Epiktet)
„Wenn du wegen eines Ereignisses verzweifelt bist, ist es nicht die Sache selbst, die dir Sorgen bereitet, sondern nur, wie du sie beurteilst.“ (Mark Aurel)
Dabei sollte die Abgrenzung doch eigentlich gar nicht so schwer sein. Denn Meinungen werden „gebildet“. Sie sind wandelbar; es besteht die Möglichkeit zu einer Änderung. Wahre Tatsachen werden dagegen „erkannt“. Sie sind durch Fakten belegbar und haben eine absolute Gültigkeit.
Jedoch ist unsere moderne Gesellschaft heute besonders anfällig dafür, die (früher noch klaren) Grenzen zu verwischen. Denn gerade Menschen in offenen Gesellschaften – wie in den meisten „westlichen Demokratien“ – neigen dazu, ihre Meinungen als „Wahrheiten“ auszugeben. Wie schwierig die Abgrenzung wird, zeigt sich in besonderem Maße bei der „subjektiven Wahrheit“, der „kollektiven Wahrheit“ und der „Regime-Wahrheit“, die wir etwas näher betrachten wollen:
„Subjektive Wahrheit“: Jeder kennt sie und es scheint immer mehr davon zu geben: Menschen, die ihre eigene Wahrnehmung der gesellschaftlichen Situation als alleingültige „Wahrheit“ ansehen und mit größtem Eifer gegen Zweifler verteidigen. Dem Phänomen liegt die – psychologisch fundierte – Erkenntnis zugrunde, dass zunächst unsere Gefühle und Empfindungen darüber bestimmen, ob wir etwas für richtig oder falsch, für gut oder schlecht halten. Unsere Meinung bilden wir uns also oft spontan-emotional – und suchen uns dann die passenden Informationen dazu, um unsere – bereits feststehende – Meinung zu legitimieren. Abweichende Fakten werden ausgeblendet und nicht zur Kenntnis genommen oder als „Fake News“ abgetan. So berichtet z.B. der renommierte Professor Anand Menon von einer lebhaften Diskussionsrunde über den Brexit, in der er mit den positiven Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft auf das BIP (das Bruttoinlandsprodukt) seines Landes argumentierte. Daraufhin schrie eine Dame: „Das ist Ihr verdammtes BIP, nicht meins!“ Auf diese Weise stehen sich oft diametral gegensätzliche „Wahrheiten“ gegenüber: „meine Wahrheit“ auf der einen Seite und „deine Wahrheit“ auf der anderen Seite. So wird die DDR von den einen als „Unrechtsstaat“, von den anderen als „Volksrepublik“ gesehen, die Frauenquote von den einen als „notwendige Gleichberechtigung“, von den anderen als „Quotenirrsinn“ betitelt, und der Klimawandel von den einen als „drohende Katastrophe“, von den anderen als „Massenhysterie“ eingeordnet.
„Kollektive Wahrheit“: Noch weit gefährlicher als die „subjektive Wahrheit“ Einzelner ist die „kollektive Wahrheit“ einer Gruppe. Denn das emotionale Fundament des Meinungsgebäudes ist umso stärker, je größer die soziale Gruppe ist, die die Meinung teilt. Dies liegt daran, dass sich Menschen ihre Meinungen in Abhängigkeit davon bilden, wie diese bei anderen ankommen bzw. was sozial erwünscht ist. Die Übernahme bestimmter Meinungen und Bewertungen der sozialen Gruppe gilt quasi als „Eintrittskarte“ zur Mitgliedschaft. Abweichlern droht „Exkommunikation“. Für diesen Konformitätsdruck sind heute – in vielen verschiedenen Formen – vor allem das Internet und Social Media verantwortlich. Aber jeder hat dies auch schon einmal in einer ganz normalen Gruppendiskussionen beobachtet: Nach und nach schließen sich alle einer gefühlten Gruppenmeinung an; wer zweifelt, schweigt lieber. Noch stärker wirkt der Konformitätsdruck, wenn sich in einer Gruppe allmählich Empörung breit macht. Dann kann sich die ganze Gruppe schnell in einen Zustand lautstarker Entrüstung hineinsteigern. Und wenn dies überdies noch in aller Öffentlichkeit geschieht, wagt niemand mehr eine Mahnung zur Vernunft oder gar einen Widerspruch zu äußern. Bezeichnend ist eine Studie der Stanford University zum sozialen Sog eines Shitstorms, in der 3.000 Teilnehmer moralisch anstößige Posts sowie die wütenden Reaktionen darauf bewerten sollten. Ergebnis: Sobald sich sozialer Druck aufbaute, zogen die Probanden selbst auch mit. Mit steigendem Empörungs-Level meinten die Probanden zunehmend, es sei geboten, ebenfalls Kritik zu äußern – nach dem Motto: „Wenn alle Kritik äußern, muss ja etwas dran sein.“
„Regime-Wahrheit“: Zunehmend häufig kommt sogar vor, dass Regierung und Politik ihnen genehme Meinungen absichtlich wie (wahre) Tatsachen behandeln. Dies gilt nicht nur für „populistische“ Politiker wie Trump, Johnson oder Salvini – aber sie sind gute Beispiele. So etwas nennt sich eine „Regime-Wahrheit“, bei der durch Autoritäten und Institutionen (wie Staat und Kirche) oder durch dominante gesellschaftliche Gruppen (auch soziale Netzwerke!) vorgegeben ist, welches Wissen als wahr anerkannt und durchgesetzt wird. Im Januar 2020 hat Angela Merkel dieses Problem in ihrer Davos-Rede zum Klimawandel thematisiert, als sie anmahnte: „Wir müssen die Emotionen mit den Fakten versöhnen – und das ist vielleicht die größte gesellschaftliche Aufgabe.“ Es gebe eine „Sprachlosigkeit“ zwischen Menschen, die den Klimawandel leugneten und denjenigen, für die Klimaschutz höchste Dringlichkeit habe. Beide Gruppen sind von der vorherrschenden Meinung in ihrem Umfeld geprägt und stehen sich als Verfechter ihrer jeweils eigenen Wahrheit unversöhnlich gegenüber. Und so könne es „zum Verhängnis werden“, wenn jeder Mensch sich nur in seiner Blase, also seinem alltäglichen gesellschaftlichen Umfeld, aufhalte. Dies mache ihr Sorgen. Ja, das kann einem tatsächlich große Sorgen machen!
Und wie hilft hier die Stoa? Die Stoa zeigt das (Abgrenzungs-) Problem zwischen Fakt und Fake auf. Hierfür gibt es keine einfache Lösung. Aber es hilft, die verschiedenen „Spielarten der Wahrheit“ zu kennen und – jeden Tag von neuem – achtsam zu sein, was wir als „Wahrheit“ bezeichnen. Gleichzeitig ermutigt uns die Stoa, uns abgewogen mit allen Fakten auseinanderzusetzen und diese nicht vorschnell von unseren Bewertungen überlagern zu lassen. Diese Sorgfalt bei der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Meinungen – wie sie stoischen Grundprinzipien entspricht – ist heute wichtiger denn je! Wir sollten auf der Hut sein!
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