Es gibt wohl kein Thema innerhalb der stoischen Lehre, das so schwierig ist wie die Haltung zum selbstgewählten Tod, dem Suizid. Wie brisant das Thema ist, zeigt schon der Blick auf das Schicksal dreier berühmter Stoiker:
- Cato tötete sich mit einem Dolch, weil er nach der verlorenen Entscheidungsschlacht gegen Julius Caesar diesem nicht lebend in die Hände fallen wollte.
- Seneca öffnete sich im Kreise seiner Freunde die Pulsadern, um einer Verhaftung durch Kaiser Nero zuvorzukommen.
- Zenon, der Gründer der stoischen Schule, soll sich im hohen Alter von 98 Jahren – gebrechlich und von Schmerzen geplagt – zu Tode gehungert haben.
Die ersten Leser werden sich hier schon mit Grauen abwenden wollen. Und selbst für hartgesottenere Zeitgenossen entsteht beim Blick auf das Lebensende dieser großen Denker der Eindruck, dass der Stoizismus nichts für zarte Gemüter ist. Aber das wäre – so finde ich – ein falscher Eindruck!
Die Lage, in die ein Mensch gerät, wenn er Suizid begeht, ist immer eine Extremsituation, in die die wenigsten von uns jemals kommen werden. Dennoch sollten wir nicht die Augen davor verschließen. Es lohnt sich, so meine ich, sich zumindest im Geiste damit auseinanderzusetzen!
Zunächst lässt sich – mit einigem Erstaunen – feststellen, dass sich die Haltung der Stoiker zum Suizid nicht unterscheidet von ihrer Haltung gegenüber anderen alltäglichen Ereignissen, über die wir keine Kontrolle haben. Es entspricht einer ganz grundlegenden stoischen Haltung, dass alles, was außerhalb unserer Kontrolle liegt, uns gleichgültig sein und uns nicht bekümmern sollte. Dies gilt grundsätzlich auch für den Tod! Die Stoiker sehen nicht nur ihr Eigentum und ihre ganze Habe als lediglich vorübergehenden Besitz an, sondern auch ihren Körper. Sie leben so, als wäre er eine Leihgabe an sich selbst – auch in der ständigen Bereitschaft, alles bei Bedarf dankbar zurückzugeben.
„Ich muss irgendwann einmal sterben. Wenn jetzt, dann sterbe ich eben. Wenn aber erst ein wenig später, dann frühstücke ich erst einmal, wenn es Zeit zum Frühstücken ist. Danach werde ich bereit sein zu sterben.“ (Epiktet)
Diese Worte lassen eine unglaublich unbeschwerte Haltung gegenüber einer Situation erkennen, die für die meisten enorm angstbeladen ist! Das kann einem durchaus Respekt abnötigen, zumal die Haltung nicht von Defätismus geprägt ist. Denn auch wenn der (natürliche) Tod den Stoikern gleichgültig erscheint, so ist ihnen alles andere als gleichgültig, WIE wir über den Tod denken. Und genau hier können wir ansetzen! Hieran können wir arbeiten, insbesondere an unserer Angst vor dem Tod! Denn für die Stoiker ist der Tod keine schlimme Sache. Er erscheint nur schlimm, wenn wir uns davor ängstigen. Der Stoizismus will uns diese Angst nehmen – und zeigt dies am deutlichsten mit der stoischen Haltung zum Suizid.
„Soll ich warten auf eine Krankheit oder die Grausamkeit eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseite zu lassen? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es. […] Gefällt es dir, so lebe; gefällt es dir nicht, so kannst du wieder hingehen, woher du gekommen bist.“ (Seneca)
Eins muss allerdings klar sein: Der Stoizismus dient nicht zu einer pauschalen Rechtfertigung des Suizids. Alle Stoiker – auch diejenigen, die durch Selbstmord aus dem Leben schieden – würden jedem dringend empfehlen, sein Leben nicht grundlos wegzuwerfen. Die vorschnelle oder leichtfertige Beendigung des Lebens empfinden Stoiker vielmehr als Fehler und große Missachtung des Lebensgeschenks. Jeder sollte seinen Lebensweg bis ganz zu Ende gehen!
Der moderne Stoiker Massimo Pigliucci erinnert uns in diesem Zusammenhang an folgende Geschichte: „Am Wochenende des 23./24. Juli 2016 richtete die Performancekünstlerin Betsy Davis für etwa 30 ihrer engsten Freunde und Angehörigen eine Party aus. Es war ein fröhliches Zusammensein; die Leute machten Musik, tranken Cocktails, aßen Pizza und sahen einen von Betsys Lieblingsfilme. Am Sonntag, kurz vor der Abenddämmerung, verabschiedeten sich die Gäste, und Betsy schaute von der umlaufenden Veranda ihres Hauses in den Sonnenuntergang. Bald darauf nahm sie im Beisein ihres Pflegers, des Arztes, des Masseurs und ihrer Schwester einen tödlichen Medikamentencocktail ein und entschlief friedlich. Betsy litt an ALS und hatte am Ende die Kontrolle über ihre Muskeln nahezu völlig verloren. Inzwischen war sie 41 und nicht mehr imstande, sich die Zähne zu putzen oder sich zu kratzen. Stehen konnte sie schon länger nicht mehr, ihre Sprache war undeutlich, praktisch unverständlich geworden. Dass sie nicht mehr als Performancekünstlerin auftreten konnte, muss nicht sonderlich hervorgehoben werden.“
Suizid ist ebenso wie Sterbehilfe nach wie vor heftig umstritten – selbst in modernen Gesellschaften. Für die Stoiker war dies jedoch kein Tabu. Und wenn wir heute etwas aus der Haltung der antiken Stoiker lernen können, dann ist es, das Thema Selbstmord unbedingt zu enttabuisieren, zu entkatastrohieren! Ist die (Lebens-) Situation unerträglich geworden, müssen Betroffene die Option haben, sie zu beenden – oder aber auch weiterzukämpfen. Dies kann nur die betroffene Person selbst individuell entscheiden. Diese Entscheidung darf einem niemand abnehmen – kein Arzt, keine Kirche und kein Gesetzgeber.
Das Beispiel der drei Stoiker, die uns zu Beginn des Textes begegneten, lehrt uns: das Leben unbedingt zu leben, solange es lebenswert ist, aber den Tod nicht als Abgrund anzusehen, vor dem man ängstlich zurückweichen muss, sondern als eine Option, als „offene Türe“.
„Sagt es dir nicht zu, so steht die Türe offen. Sagt es dir aber zu, so ertrage es. Denn die Türe wird auf jeden Fall offen sein; also hat es keine Not.“ (Epiktet)
Stoiker sehen weniger auf die Hindernisse im Leben, sondern mehr auf die Möglichkeiten. Dies gilt auch (und vor allem) für das Ende des Lebens!
Seneca tötete sich nicht selbst.Man öffnete erst seine Armvenen, dann seine Beinvenen, weil er nicht starb und schließlich gab man noch ein Gift, weil auch das nicht zum Tode führte.Letztendlich erstickte er während eines Dampfbäder, in welches man ihn legte.( Tacitus)
Es entspricht der heute gängigen wissenschaftlichen Meinung, dass Seneca von Kaiser Nero die Selbsttötung befohlen wurde. Die daraufhin durchgeführte langwierige Selbsttötungsprozedur entspricht dem damals gängigen Vorgehen beim assistierten Suizid.
Ein Selbstmord liegt dann vor, wenn ich aus eigenem Antrieb handel. Eine Selbsttötung auf Befehl ist m. E. nicht mit einem Selbstmord gleich zu setzen. Ich finde, das sollte immer bedacht werden.Beim Leser entsteht der falsche Eindruck, dass Seneca aus dem freiem Willen heraus den Tod gesucht hat. MfG