Liest man heute Bücher über die Lebensphilosophie der Stoa, findet man in den wenigsten etwas über die Gottesvorstellung der Stoiker. Dass die Stoa in ihrer Ethik weitgehend ohne einen Bezug zu Gott auskommt, empfinden viele sogar als angenehm. So wird die Stoa auch nicht selten als geeignete Alternative für von ihrer Religion Enttäuschte angesehen. Und dennoch: Die Philosophie der Stoa kennt einen Gott!
„Wir stammen alle ursprünglich von Gott ab und Gott ist sowohl der Vater der Menschen als auch der Götter“ (Epiktet)
Der Stoizismus kann allerdings nichts mit dem klassisch-antiken Götterhimmel anfangen, in dem eine bunte Truppe von Supermännern und -frauen immer wieder gegeneinander intrigiert und mit den kleinen hilflosen Menschen ihr Spiel treibt. Für Stoiker gab es bereits in der Antike nur EINEN Gott, jedoch nicht im Sinne unserer heutigen monotheistischen Gottesvorstellung. Ihr GOTT ist der Kosmos selbst. Alles im Universum ist von Göttlichem durchdrungen, nicht nur die lebendige Natur, sondern auch die Menschen in ihren Beziehungen zueinander. Wir alle haben teil an der göttlichen Natur.
„Du bist um deiner selbst willen da, du bist ein Stück von Gott. Du hast in dir einen Teil von ihm.“ (Epiktet)
Insofern kann man ihre Lehre als pantheistisch (oder panentheistisch) bezeichnen. Ihre Gottesvorstellung scheint mir aber auch den christlichen Mystikern nicht unähnlich zu sein. Jedoch bestehen deutliche Unterschiede zu unserem traditionellen westlich bzw. christlich geprägten Gottesverständnis:
- Für Stoiker gibt es keinen personalen Gott, der aktiv in die Geschicke der Menschen eingreift – entweder nach Gutdünken oder indem er auf (Bitt-) Gebete reagiert. Vielmehr verwenden manche Stoiker als Synonym für Gott den Begriff logos (λόγος), der mit „Wort“ (also „Gottes Wort“) übersetzt werden kann. Der Gott der Stoiker besteht somit auf einer rein geistigen Ebene.
- Stoiker glauben an kein übernatürliches Wesen. Ihre Vorstellung von Gott kommt ohne Himmel und Hölle aus, ohne Engel und Teufel. Gott ist für sie allein durch Vernunft zu erkennen, nicht durch Glauben. Was in uns göttlich ist, ist unsere Vernunft. Insofern ist auch Gott selbst Vernunft. Das griechische Wort logos (λόγος) wird daher oft auch mit „Vernunft“ übersetzt. Nach Überzeugung der Stoiker ist wirklich alles von göttlicher Vernunft beseelt.
- Die Lehre der Stoa enthält schließlich auch keine göttlichen Gebote. Sie ist nicht in einer „heiligen Schrift“ verewigt und verbreitet keine absoluten Wahrheiten. Stoiker würden deshalb auch nie missionieren. Statt Gebote haben sie nur Angebote im Gepäck. Und selbst die Einhaltung der (für Stoiker so wichtigen) Tugenden führt lediglich zum persönlichen Glück, nicht zu einem Heiligenstatus.
Die Ethik der Stoa basiert auf der Vorstellung, dass Gott die Welt vernünftig, d.h. so fürsorglich eingerichtet hat, dass wir gut darin leben können. Das ist eine für unsere von Katastrophenstimmung und Alarmismus geprägte moderne Welt eine erstaunlich tröstliche Nachricht: Gott hat dafür gesorgt, dass alles da ist, was wir zu einem glücklichen Leben brauchen! Deshalb ist die Welt zwar noch lange kein Paradies. Aber die Stoiker sind davon überzeugt: Das Leid und Übel dieser Welt bekommen wir nur in dem Maße aufgeladen, wie wir es schultern können. Dazu befähigt uns die richtige stoische Lebenseinstellung. Das ist das göttliche Wesen: Dass wir alle „Möglichkeiten“ haben, um Leid auszuhalten und zu überwinden. Und um unser Potenzial so weit zu entwickeln, dass wir ein guter Mensch werden können – der Schlechtigkeit dieser Welt zum Trotz!
Die Lebensphilosophie der Stoa ist mit diesen Gedanken – so finde ich – für christlich sozialisierte Menschen durchaus anschlussfähig. Insbesondere als Anhänger der modernen christlichen Mystiker fällt es mir gar nicht so schwer, immer wieder eine Brücke zu den Grundsätzen des Stoizismus zu schlagen. Und auch der Buddhismus in der Ausrichtung des Zen ist mit einer stoischen Lebenshaltung stellenweise durchaus kompatibel. Gleichzeitig lässt die Stoa aber auch genügend Raum für Nichtreligiöse. Denn die Gottesvorstellung der Stoiker ist für ihre Ethik zwar sinnstiftend, aber ganz ohne legitimatorische Bedeutung. Wer dem Pfad der stoischen Ethik folgt, tut dies eben nicht aufgrund göttlicher Wegweisung, sondern allein aus der eigenen Vernunft heraus.
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