Wer Mystik und Stoa in einem Atemzug nennt, muss damit rechnen, postwendend lautstarke Empörung bei vielen Stoa-Anhängern, vor allem den Vertretern der reinen Vernunft, auszulösen. Sie verstehen Mystik als Gefühlsduselei religiöser Spinner, vor der sie die vernunftbetonte Stoa gerade bewahren soll. Und dennoch: Es lohnt sich, dem Phänomen der Mystik in der Stoa nachzuspüren.
Zunächst ist es natürlich richtig, dass der Vernunft eine herausragende Bedeutung in der stoischen Lebensphilosophie zukommt. Sie ist der Schlussstein, auf dem alles ruht. Und mehr noch: Für die Stoiker ist der gesamte Kosmos von Vernunft durchdrungen – es erscheint ihnen daher nur natürlich, dass sich der Mensch allein von seinem Verstand leiten lässt. Beispielhaft seien dazu nur zwei Zitate genannt:
„Wie kann jemand ohne gesunden Verstand glücklich sein?“ (Seneca)
„Der Mensch, der in allen Dingen seiner Vernunft folgt, wird die nötige Muße haben und die Bereitschaft zu handeln – er ist zugleich heiter und gelassen.“ (Mark Aurel)
Aber auch das ist richtig: Vernunft ist nicht alles! Man darf die stoische Lebensphilosophie nicht als bloße Gebrauchsanleitung verstehen, damit der eigene Verstand wie eine geölte Maschine funktioniert, deren Räderwerk mit präziser Logik möglichst reibungslos (d.h. möglichst ohne störende Emotionen) läuft. Die stoische Vorstellung von Vernunft – das Logos (λόγος) – geht weit über Verstand und Logik hinaus. Der Mensch mit all seinem brillanten Wissen und technischen Know-how ist nach stoischer Anschauung nur ein kleiner Teil von etwas viel Größerem, einer natürlichen kosmischen Ordnung, die vom Logos gänzlich durchdrungen ist. Insofern steht für die Stoiker die Natur im Mittelpunkt, nicht der Mensch!
Und welche Rolle spielt dabei das Logos? Die Stoiker verstehen es als eine allgemeingültige universale Erkenntnis darüber, was vernünftig ist, zum Beispiel
- dass es vernünftig ist, zusammen mit Nachbarn etwas aufzubauen, anstatt gegen sie in den Krieg zu ziehen,
- dass es vernünftig ist, im Einklang mit der Natur zu leben, anstatt sie über die Maßen auszubeuten,
- dass es vernünftig ist, anderen in Not nach Kräften zu helfen, anstatt nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Tief in uns wissen wir, dass dies alles richtig und „vernünftig“ ist. Denn wir wissen, dass wir als Teil der kosmischen Natur und Teil der menschlichen Weltgemeinschaft auch immer für das Ganze verantwortlich sind. Wir haben dieses Wissen als „Vernunft“ in uns und müssen uns „nur“ darüber klar werden. Der römische Kaiser und Stoiker Mark Aurel hat dies schon vor 2000 Jahren erkannt:
„Die Natur unseres Universums hat vernunftbegabte Wesen füreinander geschaffen, damit sie sich gegenseitig zu Nutzen sind und sich in den wahren Werten unterstützen, nicht damit sie sich schaden.“
„Denn wir sind zur gemeinschaftlichen Wirksamkeit geschaffen, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, wie die obere und untere Kinnlade. Darum ist die Feindschaft der Menschen untereinander wider die Natur.“
Im Grunde ist dies ein Gedanke voller Mystik. Denn Mystik bietet ein spirituelles Erlebnis von etwas, das größer als die wahrnehmbare Wirklichkeit ist, ein Erleben, das auf ein „Wirklichkeitsganzes“ ausgerichtet ist. Für mich macht gerade das den Reiz der Stoa aus: dass sie durch und durch pragmatisch und vernunftorientiert ist, ohne aber dabei stehen zu bleiben. Sie weitet vielmehr den Blick, bis wir uns im Kosmos selbst erkennen. Dadurch erreicht die Stoa eine Versöhnung von diesseitiger Vernunft, die auf Wissen und Wissenschaftlichkeit gründet, mit der transzendenten Erfahrung einer größeren Wirklichkeit. Für mich macht dieser beeindruckende Spagat den wahren Wert einer Lebensphilosophie aus!
Die Ratio ergründet begrifflich die Welt
bis zu der vom Verstand erfassbaren Grenze
dorthin also, hat uns die stoische Vernunft geführt
zum verwunschenen Garten der Mystik
mit der ruhigen Betrachtung der Gegenwart
sind wir durch das Tor der Achtsamkeit gegangen
endlich bauten wir eine Brücke
zwischen Gehirn, Herz und Bauch
auf diesem langen Weg versöhnten sich
Gedanken, Gefühle und Intuition
gemeinsam betrachten wir nun den Mond
wie er sich spiegelt auf dem stillen See
und tauchen ein und werden eins
in seinem silbernem Licht
„Die Dinge in der Welt sind gewissermaßen in ein solches Dunkel gehüllt,
dass nicht wenige Philosophen, und zwar nicht alltägliche, bekannt haben,
man könne sie nicht begreifen“
Marc Aurel 5 Buch 10.