Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft. Dies bedeutet: Den meisten von uns geht es so gut, dass wir uns kaum noch vorstellen können, dass es uns einmal schlecht gehen könnte. Schon die antiken Stoiker waren sich jedoch bewusst, dass uns Verluste jederzeit treffen können. Sie haben ihren Schülern daher eine Übung empfohlen, mit der sie sich daran gewöhnen sollten, wie es sich anfühlt, ohne bestimmte Annehmlichkeiten auszukommen. Seneca formulierte die Übung so:
„Hier ist eine Lektion, um den Eifer deines Verstandes zu prüfen: Verbringe eine Woche mit dem magersten und einfachsten Essen, kleide dich spärlich in schlichten Lumpen, und dann frage dich, ob dies wirklich das Schlimmste ist, was du zu befürchten hast. Wenn die Zeiten gut sind, dann solltest du dich bereit machen für die schwierigeren Phasen in der Zukunft, denn während Fortuna uns hold ist, können wir unsere Verteidigung gegen ihre Attacken aufbauen. Deshalb üben die Soldaten zu Friedenszeiten, bauen Bunker, obwohl kein Feind in Sicht ist, und strapazieren sich, obwohl niemand angreift, damit sie nicht müde werden, wenn es soweit ist.“
Viele Philosophien und Religionen raten zur – zeitweiligen – Askese. Der entscheidende Unterschied ist aber, mit welchem Ziel und Zweck der Verzicht geübt wird. Durch die stoische Übung der Reduzierung auf das Nötige lassen sich vor allem drei Ziele verfolgen, die uns dem Lebensideal der Stoiker ein Stück näher bringen können:
1. Befreiung von Abhängigkeiten: Zunächst ist es der Sinn der „Lektion“ Senecas, in guten Zeiten Verzicht zu üben, um damit auf schwere(re) Zeiten vorbereitet zu sein. Man könnte sagen: Es ist ein „Abhärten“ gegen künftige Widrigkeiten des Lebens. Ob für uns heute allerdings ein zeitweiliger freiwilliger Verzicht wirklich zu einer Abhärtung führt, erscheint doch zweifelhaft. Aber ein anderer Effekt dieser Übung lässt sich in unserer modernen Gesellschaft durchaus erzielen: Zu wissen, dass man auch mit weniger auskommt, kann befreiend wirken! Eine Weile das zu vermeiden, womit wir sonst viel Zeit verbringen, kann Kräfte freisetzen! Indem man sich Dinge versagt, die einem lieb sind – wie Autofahren, Schokolade, Alkohol oder Soziale Medien – kann es gelingen, sich von (materiellen) Abhängigkeiten frei zu machen, die einem manchmal gar nicht bewusst sind, und wieder mehr (geistige) Unabhängigkeit zu erlangen.
2. Änderung der Perspektive: Und auch das ist ein wichtiger Effekt: Indem man auf Gewohntes verzichtet, zwingt man sich meist dazu, die üblichen Pfade zu verlassen und die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen. Der Verzicht auf Gewohntes kann – wie von Seneca angeregt – das (gute) Essen oder die (schöne) Kleidung betreffen, aber – vielleicht etwas zeitgemäßer – auch den Verzicht auf Bequemlichkeiten wie z.B. Serien-Streaming oder Fernseh-Konsum, Fertiggerichte oder Internet, aber auch „liebe“ Gewohnheiten wie das Lästern über Kollegen, das exzessive Shoppen oder das träge Im-Sessel-Sitzen. Insbesondere wenn der Verzicht über eine längere Zeit praktiziert wird, kann es gelingen, eine neue Perspektive einzunehmen. Gerade für Stoiker ist es wichtig, immer wieder einmal die gewohnte Perspektive infrage zu stellen und ggf. zu ändern. Denn das Lebensglück hängt davon ab, wie man die Dinge betrachtet. Übrigens: Auf diese Weise wird von einigen auch die christliche Fastenzeit in einem modernen Kontext interpretiert (s. dazu unter https://7wochenohne.evangelisch.de/).
3. Fokussierung auf das Wesentliche: Eine Zeitspanne des Verzichts hat schließlich noch eine weitere positive Wirkung: Wenn man Verzicht nicht nur als Einschränkung begreift, sondern als Möglichkeit zur Besinnung, kann es gelingen, sich wieder mehr auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Klarheit im Wesentlichen beginnt im Kopf und ermöglicht es, Dinge (besser) zu priorisieren, um das wirklich Wichtige und Wertvolle im Leben zu finden.
„Das meiste von dem, was wir sagen und tun, ist nicht notwendig. Wenn du es beiseitelassen kannst, hast du mehr Zeit und mehr Ruhe. Frag dich in jedem Moment: „Ist das notwendig?“ Aber wir müssen auch unnötige Mutmaßungen beiseitelassen. Um die unnötigen Aktionen zu vermeiden, die ihnen folgen.“ (Mark Aurel)
Toller Text😊 Das Motto „weniger ist mehr“ hat sicher auch in „unseren Zeiten“ nicht an Bedeutung verloren. Ich denke auch hier ist das Mindset entscheidend: Verzicht als Herausforderung und nicht als Selbstkasteiung.