Haben Sie den wissenschaftlichen Begriff „Serendipität“ schon einmal gehört? Wenn nicht, geht es Ihnen wie den meisten. Dabei könnte dieser – so merkwürdig klingende – Begriff ein Schlüsselwort für Stoiker sein! Denn es geht um die Gabe, wertvolle Dinge zu finden, nach denen man nicht gesucht hat. Der Begriff bezeichnet (laut Wikipedia) eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Was gemeint ist, erschließt sich beispielhaft beim Blick auf die Geschichte des technologischen Fortschritts. Viele wichtige Entdeckungen sind nur durch Zufälle oder gar Unfälle zustande gekommen. So konnte etwa Alexander Fleming das Penicillin nur entdecken, weil eine Petrischale mit einem Schimmelpilz verunreinigt war.
War das nur ein glücklicher Zufall? Dies ist nicht die entscheidende Frage! Viel wichtiger ist die Frage, ob wir uns selbst für jemanden halten, dem immer wieder glückliche Zufälle begegnen oder nicht. Sehen wir uns eher als Glückspilz oder Pechvogel? Die Forschung ist überzeugt, dass die Selbsteinschätzung den entscheidenden Unterschied macht. Denn unerwartete Glücksfälle – ob klein oder groß – gibt es immer wieder auch in unserem Alltag. Aber bei der Serendipität geht es darum, solche zufälligen Momente bewusst wahrzunehmen und sie in Möglichkeiten umzuwandeln. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Christian Busch hat dazu (an der New York University) geforscht. Er sagt (in einem SZ-Interview):
Der Zufall ist nur ein erster Schritt. Der wesentliche zweite Schritt besteht darin, diese unerwartete Beobachtung oder Begegnung zu verstehen und zu nutzen. Im Gegensatz zu blindem Glück, das uns widerfährt, ist Serendipität also eine Art aktives Glück. Erfolgreiche Menschen sagen oft: „Na, da habe ich Glück gehabt.“ Aber wenn man sich diese Situationen näher ansieht, dann zeigt sich nicht selten, dass es am Mindset, an einer Kultur liegt, die solche glücklichen Zufälle wahrscheinlicher macht. Und das kann man trainieren.
Stoikern kommt dieses „Mindset“ bekannt vor. Denn sie wissen: Wir können zwar nicht kontrollieren, ob etwas Unerwartetes passiert, aber unsere Reaktionen darauf können wir kontrollieren. Stoiker sind durchaus planvoll vorgehende Menschen, obwohl sie wissen, dass sie nicht alles kontrollieren können. Aber es entspricht einer stoischen Lebenshaltung, das Unkontrollierbare, Zufällige, Unerwartete gelassen zu akzeptieren, und – mehr noch – das Unerwartete sogar in unsere Planung einzubeziehen!
Christian Busch gibt dazu folgendes Beispiel: Forscher haben ein Experiment mit Menschen gemacht, die sich als Glückspilze bezeichnen, und mit Leuten, die von sich selbst sagen, dass sie Pechvögel sind. Sie sollten die Straße entlanglaufen, sich in ein Café setzen und etwas bestellen. Sie wussten nicht, dass alles mit versteckten Kameras gefilmt wird, auf der Straße ein Fünf-Pfund-Schein lag und am Tisch neben dem Tresen ein erfolgreicher Geschäftsmann saß, der auch große Träume verwirklichen kann. Was ist passiert? Der Glückspilz geht die Straße runter, sieht das Geld, hebt es auf, geht ins Café und setzt sich mit seinem Getränk neben den Geschäftsmann. Die beiden kommen ins Gespräch, verstehen sich gut und tauschen Visitenkarten aus. Man weiß nicht, was später passieren wird, aber es gibt viele Möglichkeiten, dass sich aus dieser neuen Bekanntschaft etwas ergibt. Und der Pechvogel? Der geht die Straße runter, sieht das Geld nicht, bestellt sich einen Kaffee und setzt sich neben den Geschäftsmann, aber ignoriert ihn. Das war’s. Am Ende fragen die Forscher beide: Wie war dein Tag? Der Glückspilz sagt: Super, ich habe einen neuen Freund gewonnen und Geld auf der Straße gefunden. Der Pechvogel sagt: Langweilig, es ist nichts passiert.
Stoiker sind überzeugt: Das Leben bietet jedem von uns ausreichend Möglichkeiten, um sich gut zu entwickeln. Welche Möglichkeiten sich wann für uns ergeben, können wir nicht kontrollieren. Aber wir können eine (Lebens-) Haltung einüben, die uns diese Möglichkeiten – selbst wenn sie unerwartet kommen – erkennen lässt. Wir müssen nun nicht hektisch auf eine Schnitzeljagd gehen und auf jede noch so kleine Gelegenheit anspringen. Es geht vielmehr um eine generelle Haltung der Offenheit, in der wir mit offenen Augen – bzw. offenem Herzen – durchs Leben gehen und immer bereit sind, etwas Unerwartetem zu begegnen, um daraus etwas zu machen, was das Leben bereichert.
Dies haben auch die „drei Prinzen von Serendip“ aus dem alten persischen Märchen getan, von dem sich der Begriff Serendipität ableitet. (Serendip ist ein alter Name für das heutige Sri Lanka). Die drei Prinzen verlassen ihren geschützten Palast, um die Welt kennenzulernen. Sie ziehen durch die Lande – offen für alles, was ihnen begegnen könnte. Diese Offenheit lässt sie vieles zufällig erkennen, was sich später als nützlich herausstellt und womit sie anderen helfen können. Dazu gibt es verschiedene Episoden, in denen sie etwa ein entlaufenes Kamel zurückzuholen (hier in einer modernen Nacherzählung) oder verborgene Schätze finden. Natürlich, es ist nur eine Märchen, nicht die Realität. Aber mit solcher Offenheit finden auch wir vielleicht Dinge, die wir eigentlich gar nicht gesucht haben – die sich schließlich jedoch als ziemlich nützlich erweisen!
Zum Weiterlesen: Christian Busch, Erfolgsfaktor Zufall – Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können, 318 S., erschienen 2023 im Murmann Verlag (29,- €)
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