Spricht man mit Nicht-Stoikern über die stoische Lebensphilosophie, kommt es nach einer ersten Phase freundlicher Neugier bald zu einem Knackpunkt, an dem sich Vorbehalte aufbauen: die Rationalität. Vielen erscheint es als suspekt, alle Entscheidungen in ihrem Leben nur von der Vernunft bestimmen zu lassen. Diejenigen, aus der Generation, die noch Star Trek kennen (und das sind erstaunlich viele!), haben sofort das Bild des Vulkaniers Commander Spock vor Augen, der sich durch ausnahmslos logisches Denken und starre ernste Gesichtszüge auszeichnet. Wem würde da nicht ein kalter Schauer den Rücken herunterlaufen, wenn er sich eine Welt voller Spocks vorstellt?! Aber: Mister Spock ist NICHT das Idealbild der Stoiker!
Zunächst muss man erkennen, dass die geschilderte Vorgehensweise in allen Diskussionen weit verbreitet (und leider schon fast üblich) ist: Wenn man zunächst ein überzogenes, holzschnittartiges Bild von etwas zeichnet, kann man es hinterher leicht kritisieren. Dagegen raten die Stoiker dazu, generell nicht vorschnell zu urteilen und speziell Vorurteile zu vermeiden.
Aber das Problem lässt sich nicht einfach wegargumentieren. Denn die Vernunft ist DER zentrale Baustein der stoischen Lebensphilosophie. Und gleichzeitig sympathisieren wir Menschen gerne mit Personen, die gegen die Vernunft handeln. Die besten, romantischen Filme sind voll von solchen Personen. (Wir lieben „Bridget Jones“ für ihre völlig utopischen Vorsätze und „Amélie“ für ihre rein intuitive Spontanität.) Insbesondere Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene finden es wichtig, immer wieder gegen das angebliche Diktat der Vernunft zu rebellieren und etwas Unvernünftiges zu tun. Manche sehen dies sogar als Ausdruck ihrer individuellen Freiheit.
Das führt uns zu der Frage: Müssen denn Stoiker wirklich immer rational sein?
Der Stoizismus ist keine Ideologie oder Religion, bei denen ein Abweichen von der „reinen Lehre“ unbedingt zu vermeiden oder gar als Ketzerei anzusehen ist. Selbst der berühmte Stoa-Lehrer Epiktet wird in den täglichen Lehrgesprächen mit seinen Schülern erfahren haben, dass sich auch Stoa-Schüler manchmal (und immer wieder) nicht streng rational verhalten. (Merke: Stoiker sind auch nur Menschen!) Sie werden dann nicht wegen Fehlverhaltens bestraft, sondern angehalten, darüber nachzudenken. Worauf es ankommt, ist nicht, immer vernünftig zu sein, sondern wie wir auf Unvernunft reagieren. Mit Besonnenheit und Wachheit können wir Unvernunft – ob in der Politik oder im Freundeskreis – entlarven und mit Vernunft konfrontieren.
Gemeinsam ist den Stoikern die Idee, dass wir unsere Welt durch Vernunft besser machen können. Und für unser eigenes Leben gilt: Je mehr Vernunft wir in unser Leben lassen, desto besser wird uns unser Leben gelingen. Vernunft bewahrt uns davor, uns von Sorgen über Unvorhersehbares niederdrücken oder von Neid auf den Erfolg anderer zerfressen zu lassen. So ist es schließlich auch kein Zufall, dass die stoischen Grundsätze zur Vernunft sogar in die Entwicklung der Rational–Emotive-Verhaltenstherapie (kurz REVT) – einer modernen Kognitiven Verhaltenstherapie – eingeflossen sind.
Im Übrigen sei noch erwähnt, dass vernunftbetonte Stoiker keine angepassten Langweiler sein müssen. Auch Stoa-Schülern ist es – natürlich – nicht verboten, sich vom Mainstream abzusetzen. Sie dürfen und sollen gerade in Gedanken durchaus rebellisch und innovativ sein! Denn der Stoizismus ist eine tägliche Herausforderung!
Dies sind die Wesensmerkmale einer vernunftgesteuerten Seele: Selbstwahrnehmung, Selbstprüfung und selbstbestimmtes Handeln. Sie werden reiche Früchte tragen. … Und alle selbstgesteckten Ziele übertreffen. (Mark Aurel)
Der Mensch, der in allen Dingen seiner Vernunft folgt, wird die nötige Muße haben und die Bereitschaft zu handeln – er ist zugleich heiter und gelassen.“ (Mark Aurel)
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