Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaft – und die meisten von uns auch persönlich – ziemlich aufgeschreckt. Wir haben zwar schon einige schwere globale Krisen erlebt – Weltwirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise –, aber diese waren weit weg und blieben für die Mehrheit hierzulande ohne direkte Beeinträchtigung für unser Leben. Das Corona-Virus ist jedoch für uns alle mit einer unmittelbar spürbaren Bedrohungslage verbunden. Jeder hat dadurch Verluste oder Verlustängste erlebt, ob beruflich oder persönlich.
Diese Art der Bedrohung ist neu für uns. Die Generation unserer (Ur-) Großeltern kannte noch Hungersnöte, tödliche Krankheiten und Kriege als selbstverständliche Begleiter durch ihr Leben. Wir haben uns dagegen in den letzten Jahrzehnten an friedliche Zeiten, gut gedeckte Tische und die Segnungen moderner Medizin gewöhnt. Mehr noch: Persönliches Glück ist für uns (fast) zur Normalität geworden. Wir glauben, ein gelungenes Leben – Schulabschluss, Job, Familie, Auto, Haus – stehen uns wie selbstverständlich zu! Existenzielle Gefahr (zumal Lebensgefahr) ist allenfalls etwas für einen Kinoabend, den wir mit einem leichten Schaudern und einem guten Essen beenden. Warnende Stimmen aus der Wissenschaft vermögen uns vielleicht eine Zeitlang aufzuschrecken, werden aber schließlich ignoriert. Denn es wird schon alles gut werden! Glück ist verfügbar und wir erheben Anspruch darauf!
In der Corona-Krise haben wir nun erlebt, wie es ist, plötzlich und unvermittelt einen Verlust zu erleiden – willkürlich und ganz ohne Verschulden. Aber was tun wir mit dieser Erkenntnis? Vielleicht ist es eine Gelegenheit zum Umzudenken. Denn es führt noch einmal klar vor Augen, dass – entgegen unserer Anspruchs-Haltung – das meiste im Leben nicht unter unserer Kontrolle steht und uns das Liebste jederzeit entrissen werden kann. Hierfür haben sich Stoiker eine bestimmte Haltung angeeignet, die in Zeiten der Corona-Pandemie – angesichts von Verlusten und Verlustängsten – hilfreich sein kann. Für sie steht alles im Leben unter dem Vorbehalt: „Wenn das Schicksal es zulässt.“ Mit diesem allgegenwärtigen Vorbehalt ist der Stoiker immer darin bemüht, so achtsam wie möglich zu sein auf das, was wir haben, und es richtig zu würdigen – denn es könnte bald vorbei sein. Daher ist es wichtig, den Augenblick wertzuschätzen und Dankbarkeit für die schönen Dinge, die wir haben, zu empfinden.
„Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen, und alles andere so nehmen, wie es ist.“ (Epiktet)
In dieser Haltung ist der Stoiker weder ein unverbesserlicher Optimist, der immer einen guten Ausgang erwartet; denn er nimmt nicht an, dass selbstverständlich alles gut gehen wird. Er ist aber auch kein Pessimist, der immer annimmt, dass alles schlecht ausgeht und in Fatalismus verfällt. Jakob von Uexküll, der Begründer des „Alternativen Nobelpreises“, hat diese Haltung am besten getroffen, als er sich selbst weder als Optimist noch als Pessimist, sondern vielmehr als „Possibilist“ bezeichnete. Er meinte:
„Es gibt zu viele Möglichkeiten, als dass man Pessimist sein kann. Es gibt natürlich auch zu viele Krisen, als dass man einfach Optimist sein kann. Ich bin Possibilist, ich sehe Möglichkeiten.“
Auch die Stoa ermutigt uns immer wieder, nach Möglichkeiten zu suchen und neue Wege zu finden. Damit es gelingt, neue Möglichkeiten zu eröffnen, muss man nicht zuvor die Welt verändern – man muss vielmehr die eigene Sichtweise verändern. Der Possibilist betrachtet die Welt so, wie sie ist, aber aus einer anderen Perspektive. Ihm erscheinen die Dinge in einem neuen Licht und er erkennt, was wirklich wichtig ist. So wird er selbst zum Gestalter seiner Lebensbedingungen und seines eigenen Lebensglücks. Es ist einen Versuch wert!
„So wie der Zimmermann mit Holz arbeitet und der Bildhauer mit Bronze, so ist unser eigenes Leben das Material für den, der sich mit der Kunst des Lebens befasst.“ (Epiktet)
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