Ein römischer Kaiser weist den Weg in der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat sich mittlerweile für viele zu einer existenziellen Lebenskrise ausgeweitet. Es geht längst nicht mehr nur um die Gewöhnung an lästige Freiheitsbeschränkungen oder die Verarbeitung der Enttäuschung nach wiederholter Absage von Veranstaltungen. Immer öfter werden Fragen der eigenen Existenz aufgeworfen. Dabei brechen sich elementare Sorgen und Zukunftsängste Bahn. In dieser Situation wird vielen schmerzlich bewusst, dass ihnen ein innerer Kompass fehlt, der Weg und Richtung sogar und gerade in Krisenzeiten weist.

Für sie lohnt sich ein Blick auf den römischen Kaiser Mark Aurel (121-180 n.Chr.), der Historikern als der letzte einer Reihe von römischen Herrschern gilt, die als die fünf guten Kaiser bekannt sind. In seine Regierungszeit fiel die nach ihm (bzw. seinem Zweitnamen) benannte „Antoninische Pest“, eine Pandemie, die etwa 7-10 Mio. Menschen im gesamten Gebiet des Römischen Reiches das Leben kostete und der er letztlich (wahrscheinlich) selbst zum Opfer fiel. Angesichts verheerender Seuchen und ständiger Kriege war Mark Aurels besonnener Regierungsstil vorbildlich. Einen wesentlichen Anteil daran hatte die Philosophie der Stoa, deren bekennender Anhänger er war. Heute ist Mark Aurel der wohl bekannteste aller stoischen Philosophen.

Die Schule der Stoa war nie eine rein akademische Disziplin, sondern vorrangig auf die Bewältigung des alltäglichen Lebens ausgerichtet. Sie hilft dabei, sich auf das Wichtige im Leben zu konzentrieren und nicht zu viel Kraft zu vergeuden bei der Beschäftigung mit Dingen, die wir nicht beeinflussen können. Wenn wir also unser Leben darauf fokussieren wollen, was wir selbst in der Hand haben, dann fangen wir am besten bei uns selbst an – bei unseren Ansichten und Einstellungen. Die Stoa gibt dazu Anleitung für eine Grundhaltung, mit der wir den Herausforderungen des täglichen Lebens – und auch einigen Stürmen – begegnen können – mit unerschütterlicher Ruhe und innerer Ausgeglichenheit. So erweist sich die Stoa gerade in Zeiten einer Pandemie für viele als wertvolle Handlungsanleitung. Mark Aurel, der zeitlebens von Gewalt und Tod umgeben war, hat daraus seine Lebenseinstellung abgeleitet, von der wir noch heute viel lernen können.

Sei unerschütterlich!

Die Stoiker haben die Affekte (Gemütserregungen wie Zorn, Hass oder Angst) immer als eine Gefährdung ihrer Seelenruhe angesehen. Nur wer seine Affekte durch richtiges (vernünftiges) Urteilen überwindet, wird tugendhaft. Das Ziel besteht dabei allerdings nicht im Unterdrücken oder Verbergen jeglicher Emotionen. Was der moderne Stoiker anstrebt, ist Ataraxia, eine Grundstimmung von „Seelenruhe“ oder „Gemütsruhe“, eine innere Unerschütterlichkeit gegenüber allen Widrigkeiten des Lebens.

„Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen. Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen.“ (Mark Aurel)

Ataraxia ist für den Stoiker Weg und Ziel gleichermaßen. Dazu müssen vor allem die Affekte unter Kontrolle gebracht werden. Denn Angst und Zorn – in Pandemiezeiten ein steter Begleiter – verstellen nur allzu oft den Zugang zu vernünftigen Lösungen und beeinträchtigen die Lebensqualität.

Finde deine innere Stärke!

Eine zentrale Botschaft der Stoa liegt in der Unterscheidung zwischen dem, was für uns beherrschbar bzw. kontrollierbar ist, und dem, was wir eben nicht kontrollieren können. Ziel ist es, unsere Bemühungen auf Ersteres konzentrieren, statt sie auf Letzteres zu verschwenden.

„Du hast Macht über deinen Geist, nicht über Geschehnisse außerhalb dessen. Erkenne das, und du wirst Stärke finden.“ (Mark Aurel)

Wo jedoch die Grenzlinie konkret verläuft, kann in jedem Einzelfall anders sein und muss immer wieder neu ausgelotet werden. Die stoische Lebensphilosophie kann in diesen Fällen nur den Rat geben, die Situation so gewissenhaft und vernünftig wie möglich zu analysieren. So sind in einer Pandemie gewiss Sicherheitsvorkehrungen angebracht (Maske, Abstand etc.). Aber sie geben nur einen Anhaltspunkt, um sich in jeder Situation angemessen verantwortungsvoll zu verhalten. Wenn wir dann alles getan haben, was in unserer Macht steht, um die Grenzlinie zu erkennen, können wir uns in stoischer Gelassenheit üben. Der Stoiker ermahnt sich zu akzeptieren, dass seine Handlungen und sein Leben Teil von etwas Größerem sind, von dem er nur ganz wenig kontrollieren kann. Das bedeutet nicht, dass man sich passiv den Ereignissen seines Lebens unterwirft. Gelassenheit kommt vom Akzeptieren der Realität und der Fakten und – gleichzeitig – dem Weitermachen und Nichtaufgeben.

Lebe unter Vorbehalt!

Immer wieder wird unser Leben durch Schicksalsschläge aus der Bahn geworfen. Dies haben viele in diesem Jahr erlebt – ob durch die Corona-bedingte Absage einer lang ersehnten Hochzeitsfeier, den Corona-bedingten Tod eines liebgewordenen nahestehenden Menschen oder die eigene Erkrankung. Wenn dies geschieht, beklagen wir unser Los und hadern mit dem Schicksal. Es scheint kaum vorstellbar, dass wir jemals wieder Glück empfinden können. Und dennoch kann es gelingen.

„Ich Unglückseliger – sagt jemand –, dass mir dieses oder jenes widerfahren musste! Nicht doch! Sprich vielmehr: Wie glücklich bin ich, dass ich trotz dieses Schicksals kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft geängstigt!“ (Mark Aurel)

Dies klingt, als wäre Mark Aurel ein unverbesserlicher Optimist. Aber so ist es nicht. Denn Stoiker nehmen nicht an, dass selbstverständlich immer alles gut gehen wird. Sie wissen vielmehr, dass das meiste im Leben nicht unter unserer Kontrolle steht und uns daher das Liebste jederzeit entrissen werden kann. Sie bereiten sich innerlich auf Schicksalsschläge vor, indem sie all ihr Tun unter den Vorbehalt stellen: „Wenn das Schicksal es zulässt.“ (Christen sagen „So Gott will“, Muslime sagen „inschallah“.) Dies soll uns keine Angst machen. Vielmehr ist mit diesem allgegenwärtigen Vorbehalt die Mahnung verbunden, so achtsam wie möglich zu sein auf das, was das Leben uns Gutes bietet, und es richtig zu würdigen – denn es könnte bald vorbei sein.

Bedenke: Alles ist vergänglich!

Eine gute stoische Übung für die Bewältigung des Alltags in der Pandemie ist es, sich immer wieder einmal an die Sterblichkeit – die eigene und die seiner Nächsten – zu erinnern (memento mori). Damit verknüpft ist die grundlegende Erkenntnis, dass alle Dinge vergänglich sind und wir nichts auf Dauer festhalten können.

„Wenn du dich auch noch so sehr erzürnst oder grämst, so bedenke, dass das Leben nur eine kleine Weile dauert und dass wir bald alle im Grab sein werden.“ (Mark Aurel)

Das regelmäßige Bedenken der Vergänglichkeit soll uns nicht die Freude am Leben verleiden oder uns – mit Hinweis auf die Corona-„Übersterblichkeit“ – ängstigen. Im Gegenteil: Der Stoiker verwendet den memento mori-Gedanken dazu, den Augenblick wertzuschätzen und Dankbarkeit für die schönen Dinge, die wir haben, zu empfinden.

Lerne Dankbarkeit!

Das Coronavirus – oder besser gesagt die Gegenmaßnahmen – verlangen uns viel ab. In einer dunklen und kalten Jahreszeit sind Kontaktbeschränkungen und Veranstaltungsverbote Gift für die Seele und wir klagen über all das, was wir gerne tun würden und nicht tun dürfen.

„Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast.“ (Mark Aurel)

Darin kommt einer der zen­­­­­­­­­­tralen Gedanken des Stoizismus zum Ausdruck: nämlich dass wir – selbst inmitten einer Pandemie – eine tiefe Zufriedenheit erleben können mit dem, was wir heute haben, ohne dass wir immer darauf schielen, was wir morgen noch (Größeres, Besseres, Schöneres) erlangen können. Die Stoa will uns zwar nicht unsere tiefsten Sehnsüchte mit nüchternem Pragmatismus oder Verzichts-Parolen vergällen. Aber wir sollten uns vorsehen, dass dies nicht zum Hauptantrieb in unserem Leben wird: sich immer und immer wieder nach dem zu verzehren, was man noch erlangen will. „Wenn erst die Pandemie vorbei ist …“ „Wenn ich erst wieder ohne Maske raus darf …“ „Wenn erst wieder Feiern gefahrlos möglich sind …“ „Wenn erst ein Impfstoff gefunden ist … dann werde ich wieder glücklich sein!“  Das reden wir uns ein. Die Stoa möchte uns zu einem Perspektivwechsel ermutigen. Nehmen wir doch einmal in aller Ruhe wahr, was wir bereits haben – und (ganz wichtig!) entwickeln wir Ideen, was wir daraus machen könnten: z.B. mehr traute Zweisamkeit wagen, eine neue Online-Fortbildung beginnen, den Kindern öfter vorlesen, lange Spaziergänge genießen und neue Ideen für die Zukunft entwickeln … Wenn uns bewusst wird, wie reich wir bereits sind, werden wir eine tiefe Dankbarkeit empfinden, die weit mehr verheißt, als der sehnsüchtige Drang, einem zukünftigen unerreichbaren Glück nachzujagen und die Chance zu verpassen, mit dem, was wir haben, im Hier und Jetzt glücklich zu sein. Gelingt dies, können wir uns zurecht wie ein römischer Kaiser fühlen!

1 Kommentar

  1. Dem kann ich voll beipflichten. Auch ich finde mich in der Stoa wieder, vor allem bei Epiktet (Minimalismus), Seneca (Zeitaspekt und Philosophie als Bibliothek des Lebens) und Mark Aurel (Positiver Pragmatismus, Kosmos-Bezug, Vernunft und Intuition als innere Natur).

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