Das Gleichnis besagt: „Wenn ein Hund, der an einen Wagen festgebunden ist, mitlaufen will, dann wird er einerseits gezogen und andererseits läuft er mit. Er handelt also freiwillig unter Zwang. Will er aber nicht mitlaufen, ist er unausweichlich dem Zwang ausgeliefert. Dasselbe gilt wohl auch für die Menschen. Denn auch wenn sie nicht wollen, werden sie unausweichlich dazu gezwungen, sich dem Schicksal zu fügen.“ (Zenon)
Moment mal!! Will Zenon unser Leben ernsthaft mit dem eines angeleinten Hundes vergleichen?? Bevor wir lautstark protestieren, sollten wir das Gleichnis zunächst historisch einordnen. Denn nach dem Verständnis der antiken Stoiker ist alles um uns herum von göttlicher Vernunft – dem „Logos“ (λόγος) – beseelt. Die Welt ist wohlgeordnet; alles Geschehen ist kausal determiniert (Schicksal) und auf ein gutes Ende hin angelegt (Vorsehung) – daher macht es keinen Sinn, sich dem Logos widersetzen zu wollen. Nur wer im Einklang mit dem Logos lebt, findet frei von übersteigerten Affekten Seelenfrieden und führt sein Leben wie der stoische Weise in Glückseligkeit. Der Mensch muss sein Schicksal also annehmen und es ertragen. Freiheit erwächst aus der Einsicht in diese Notwendigkeit und besteht in einer Mitwirkung am Logos. Seneca sagt:
„Den, der einwilligt, führt das Schicksal. Denjenigen, der nicht einwilligt, schleppt es mit sich.“
Heute wird das Bild jedoch bei einem modernen Mitteleuropäer, der persönliche Freiheiten als hohes oder gar höchstes Gut ansieht, eher Widerwillen erzeugen. Wir verfolgen ganz andere Ideale: Wir wollen uns aus Fesseln befreien, wollen unser Schicksal selbst bestimmen und sind bereit, dafür zu kämpfen. Nicht wenige würden lieber mit aller Kraft an der Leine zerren als schicksalsergeben hinter dem von anderen gelenkten Karren her zu trotten. Also, was können wir heute mit diesem „antiken“ Bild noch anfangen! Ich finde, man kann mit diesem Gleichnis der Stoiker zwei wichtige und hilfreiche Erkenntnisse verbinden:
1. Erkenntnis: Um wichtige Lebensentscheidungen treffen zu können, müssen wir zunächst unsere Lebensumstände schonungslos analysieren und die Rahmenbedingungen für unser Handeln kennen. Denn es gibt im wahren Leben immer Bindungen, Hindernisse und Begrenzung für unser Handeln – so wie es die Leine am Hals des Hundes symbolisiert. Wir müssen herausfinden, wo in der jeweiligen Situation unsere persönlichen Grenzen und Beschränkungen liegen. Wir müssen ausloten, wie groß unser Spielraum ist, wozu wir in der Lage sind und wozu nicht. Das Bild vom angeleinten Hund – so unschön es ist – erinnert uns an diese permanente Herausforderung.
2. Erkenntnis: Ob wir ein glückliches Leben zu führen in der Lage sind, hängt letztlich von unserer Perspektive ab: Wie gehen wir mit den festgestellten Begrenzungen in unserem Leben um? Sehen wir vorrangig die Einschränkungen durch die Leine oder erkennen wir den Spielraum, den sie uns lässt? Bietet ein „Leben an der Leine“ nach unserer Einschätzung überwiegend Zwänge und Behinderungen oder sehen wir dadurch eher Möglichkeiten? Nach stoischer Auffassung ist jeder Mensch in der Lage, den Spielraum seiner „Leine“ zu einem glücklichen Leben zu nutzen. In diesem Sinne kann das Gleichnis vom angeleinten Hund auch durchaus tröstlich sein und nicht nur als Horror-Szenario, sondern als Anleitung zu einem glücklichen Leben verstanden werden.
„Verlange nicht, dass die Dinge gehen, wie Du es wünschst, sondern wünsche sie so, wie sie gehen – und Dein Leben wird ruhig dahinfließen.“ (Epiktet)
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