Es war einmal ein Bauer, dem war sein einziges Pferd davongelaufen.
Die Nachbarn kamen, um ihr Mitleid zum Ausdruck zu bringen: „So ein Unglück!“
Der Bauer sagte nur: „Mag sein.“
Am nächsten Tag kehrte das Pferd mit sieben Wildpferden zurück.
Die Nachbarn liefen aufgeregt zusammen und riefen, welch glücklicher Mann der Bauer sein müsse!
Der Bauer sagte nur: „Mag sein.“
Am Tag darauf versuchte der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zuzureiten, wurde abgeworfen und brach sich ein Bein.
Die Nachbarn, die den Bauern trafen, klagten: „O weh, so ein Pech!“
Der Bauer erwiderte nur: „Mag sein.“
Am nächsten Tag kamen Soldaten ins Dorf, um Wehrpflichtige für die Armee zu rekrutieren, musterten den Sohn des Bauern jedoch wegen seines gebrochenen Beines aus.
Die Nachbarn wollten den Bauern beglückwünschen: „Ist das nicht großartig?“
Doch der Bauer sagte wieder nur: „Mag sein.“
Die alten Stoiker hätten diesem einfachen chinesischen Bauern wohl ihren Respekt erwiesen. Und der große Stoa-Lehrer Epiktet, der selbst einmal Sklave war, hätte diese Geschichte – wenn er sie gekannt hätte – sicher gerne als Lehrbeispiel an seine Schüler weitergegeben.
Aber was genau soll uns das Verhalten dieses Bauern, der nichts als ein ständiges „Mag sein“ über die Lippen bringt, eigentlich lehren? Will hier jemand den dummen Spruch „Immer schön ruhig bleiben!“ oder „Abwarten und Tee trinken!“ als Lebensweisheit verkaufen?
Die Geschichte vom chinesischen Bauern vermittelt uns beispielhaft eine grundlegende Erkenntnis der Stoiker: Nämlich dass in jedem Leben nur wenige Dinge beeinflussbar sind, viele dagegen nicht – und dass wir uns deshalb immer bewusst sein sollten, wie wenig Kontrolle wir in unserem Leben letztlich haben. Aber Vorsicht: Diese Erkenntnis ist kein Grund, um in Fatalismus und Ohnmachtsgefühle zu verfallen, und kein Plädoyer für eine defätistische Haltung. Vielmehr gibt die Stoa als moderne Lebensphilosophie folgenden praktischen Rat, um mit dieser Erkenntnis umzugehen:
Da wir keine vollständige Kontrolle haben …
Wir sollten uns nicht zu sehr an das, was wir haben (oder zu haben glauben) binden. Dies bedeutet nicht Gleichgültigkeit oder Gefühllosigkeit, sondern die Mahnung, nicht alles für selbstverständlich zu erachten, denn es kann auch schnell vorbei sein. Wir sollten uns immer wieder bewusst machen und ruhig akzeptieren, dass wir keine vollständige Kontrolle über die Ereignisse haben.
… sind viele Mühen und Sorgen überflüssig …
Daraus folgt auch der Rat, dass wir versuchen sollten, nicht zu viel Kraft und Mühen auf die vielen Dinge im Leben zu verschwenden, auf die wir keinen Einfluss haben. Dies ist sicher ein guter Rat, da die meisten Menschen dazu neigen, sich gerade über solche Dinge Sorgen zu machen, die sie nicht beherrschen können. Wie oft erleben wir es, dass Menschen über „verschüttete Milch“ klagen. Oder dass sie sich in Sorge über eine unbestimmte Zukunft quälen.
… vielmehr sollten wir würdigen, was wir haben …
Es ist dementsprechend eine gute stoische Übung, all unsere Pläne und Wünsche immer unter dem Vorbehalt zu formulieren „Wenn das Schicksal es zulässt“. (Christen sagen „So Gott will“, Muslime sagen „Inschallah“.) Mit diesem allgegenwärtigen Vorbehalt ist der Stoiker stets darin bemüht, so achtsam wie möglich zu sein auf das, was wir haben, und es richtig zu würdigen. Dazu gehört auch, dass wir uns auf unsere Fähigkeiten konzentrieren und nicht ständig nur auf unsere Beeinträchtigungen starren.
… und das Beste daraus machen!
Der Stoiker ermahnt sich zu akzeptieren, dass seine Handlungen und sein Leben Teil von etwas Größerem sind, von dem er nur ganz wenig kontrollieren kann. Diese Erkenntnis hilft, auch Schicksalsschläge gelassen anzunehmen. Das bedeutet nicht, dass man sich passiv den Ereignissen seines Lebens unterwirft. Gelassenheit kommt vom Akzeptieren der Realität und der Fakten und – gleichzeitig – dem Weitermachen und Nichtaufgeben.
„Wir müssen aus den Dingen, die in unserer Macht stehen, das Beste machen, und alles andere so nehmen, wie es ist.“ (Epiktet)
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Nach meinem Verständnis beinhaltet die Geschichte vom chinesischen Bauern auch einen erkenntnistheoretischen Aspekt, der in der Kommentierung nicht hinreichend gewürdigt wird.
Aus seiner skeptische Grundhaltung heraus hält sich der Bauer in der Bewertung der Vorfälle zurück und entscheidet – anders als seine Mitmenschen – nicht, welcher Vorfall positiv oder negativ zu bewerten ist. Ich hätte die Geschichte eher so interpretiert, dass es um Zurückhaltung bei der Bewertung von Dingen geht.