Vorsicht beim Anprobieren der „Galoschen des Glücks“!

„Die Galoschen des Glücks“ ist eines von Hans Christian Andersens weniger bekannten Märchen. Dennoch ist es – wie die meisten seiner Geschichten – tiefenpsychologisch hochinteressant und lehrsam.

In dem Märchen verschenkt eine Fee die „Galoschen des Glücks“ an verschiedene Menschen. Wer sie anzieht, wird augenblicklich in die Person oder an den Ort und in die Zeit versetzt, an der er am liebsten sein möchte. Als erster erhält sie der Justizrat Knap, der von der guten alten Zeit schwärmt, der aber – prompt in der Vergangenheit angekommen – bald erkennen muss, dass früher eben beileibe nicht alles besser war und desillusioniert in die Gegenwart zurück flieht. Die herrenlosen Galoschen werden als Nächstes von einem Nachtwächter gefunden, der sich in einen schneidigen, Gedichte schreibenden Leutnant verwandelt, den er um seine abenteuerliche Lebensweise beneidet. Aber schon bald sehnt er sich nach seinem schlichten, trauten Familienleben zurück und ist froh, als er die Galoschen wieder los wird. Der nächste wünscht sich, in die Herzen der Menschen sehen zu können. Aber bei näherem Hinschauen ist er von dem, was er sieht, zutiefst erschreckt. Auch die weiteren Galoschen-Träger, die sich z.B. Reisen zu ihren Sehnsuchtsorten – zum Mond oder nach Italien und in die Schweiz – wünschen, werden zum Opfer ihrer eigenen Wünsche und können von Glück sagen, dass sie die Galoschen rechtzeitig wieder von ihren Füßen bekommen. Am Ende wird nicht einmal der Theologe glücklich, der sich selbst den Tod, seiner Seele aber die Unsterblichkeit wünscht („der Körper ruhte, der Geist reiste“). Denn „als sie die Galoschen von seinen Füßen zogen, da war der Todesschlaf zu Ende und der Wiederbelebte erhob sich.“

So ein Ärger!! Da bekommt man die Gelegenheit, etwas zu erlangen, was man sich immer schon sehnlichst gewünscht hat – und dann geht alles schief! Aber seien wir ehrlich: Kommt uns das nicht bekannt vor? Wie oft träumen wir von etwas … und sind dann enttäuscht, wenn es erreicht ist. Man muss sogar zugeben: Je intensiver der Traum, desto größer die Enttäuschung. Aber was folgt daraus?

Zunächst sollte man sich klarmachen: Es ist nichts verkehrt am Träumen und Sehnen! Es ist vielmehr eine wichtige Antriebsfeder, die uns fortbewegt, bevor wir es uns allzu bequem machen und in Alltags-Routinen erstarren. Aber: Unsere Träume sollten nicht den Blick auf die Realität verstellen! Oft schwelgen wir in süßen Erinnerungen: „Was war das früher eine glückliche Zeit!“ Wir sehnen uns weit fort von unserem Alltag an einen Ort, „an dem man wahrhaft glücklich leben kann!“ Und wir beneiden Bekannte oder Kollegen: „Was für ein glücklicher Mensch!“ Unsere – ganz und gar menschlichen – Träume können so leicht die Realität verzerren und zu Neid und Eifersucht führen. Aber wer neidisch ist, zerstört seine Lebenszufriedenheit. Insbesondere das ständige Vergleichen mit anderen führt zu Selbstwertverlust; man bemitleidet sich und fühlt sich anderen unterlegen. Wenn wir also mit Sehnsucht im Herzen immer nur einem zukünftigen – unerreichbaren – Glück nachjagen, verpassen wir leicht die Chance, mit dem, was wir haben, im Hier und Jetzt glücklich zu sein. In diesem Sinne ist auch die Warnung der Fee in Andersens Märchen zu verstehen: „Man sollte besonders achtgeben, wenn man die Galoschen des Glücks an den Füßen hat.“ Noch deutlicher formuliert es der Stoa-Lehrer Epiktet:

„Es ist nicht möglich, Glück zu empfinden, wenn wir uns gleichzeitig nach etwas sehnen, das wir nicht haben.“

Eine gute Übung gegen Sehnsucht und Neid ist es, sich das Gute im eigenen Leben sowie die eigenen Werte immer wieder bewusst zu machen und Dankbarkeit dafür zu empfinden. Wer das, was er im Leben erlangt hat, wahrhaft wertschätzt, kann auch anderen ihr Glück gönnen und wird nicht von Neid und Eifersucht in seinem Seelenfrieden gestört.

Für die Stoiker ist ganz klar: Das wahre Lebensglück lässt sich nicht mit den „Galoschen des Glücks“ erreichen. Denn Lebensglück (Eudaimonia) gründet nicht auf der Sehnsucht nach etwas Unerreichtem, sondern auf einem Gefühl von Erfüllung und tiefer Zufriedenheit mit dem Vorhandenen. Dieses Gefühl erlebt, wer mit sich selbst im Reinen ist. Es kommt nicht von außen, sondern von innen. Das heißt: Lebensglück ist etwas, was man nur in sich selbst findet. Es ist eine innere Befriedigung, die daraus entsteht, dass man sein eigenes Potenzial ausschöpft und im Einklang mit seinen Kernwerten lebt. Nur dadurch kann sich ein tiefgehendes dauerhaftes Gefühl der Erfüllung einstellen. Und nur dadurch haben wir die Chance, der Mensch zu werden, der wir sein wollen.

1 Kommentar

  1. Gutes Beispiel, auch dafür, darauf zu achten, nicht vom eigenen glänzenden Besitz (wie den Glücksgaloschen) besetzt oder gar besessen zu werden. Das kann sehr belastend sein angesichts des heutigen Konsumwahns und der permanenten Reizüberflutung. Deshalb geht für mich der Stoizismus mit einem minimalistischen Lebenswandel einher.

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert