Immer wieder haben wir das Gefühl, im Leben zu kurz gekommen zu sein. Wir beklagen, dass die besten Stücke außer Reichweite sind oder uns von anderen vor der Nase weggeschnappt wurden. Manche „Erfolgstrainer“ raten uns in solchen Situationen zu mehr Ellbogen-Mentalität und einem unbedingten Durchsetzungswillen. Ganz anders der Stoa-Lehrer Epiktet, der uns mit seinem Gleichnis von einem Festbankett Mut machen will zu mehr Geduld, Bescheidenheit und Mäßigung.
„Denke daran, dich im Leben stets so zu verhalten, als seist du bei einem Festbankett. Wenn etwas, das herumgereicht wird, bei dir ankommt, dann nimm dir eine bescheidene Menge. Es geht vorbei? Halte es nicht an. Es ist noch nicht bei dir angekommen? Lass dein Verlangen danach nicht überhand nehmen, sondern warte, bis es bei dir ankommt. So verhalte dich mit Kindern, dem Ehepartner, mit deiner beruflichen Position, mit Reichtum – und eines Tages wirst du es verdient haben, an einem Festbankett mit den Göttern teilzunehmen.“ (Epiktet)
Epiktet ermahnt uns, nicht schon beim Kauen hinüber zu spähen, wo sich gerade die nächste Schüssel befindet, die herumgereicht wird, und nicht gierig über den Tisch zu langen, sondern dankbar zu sein für die Teilnahme an dem üppigen Mahl und jeden Gang – solange er andauert – in vollen Zügen zu genießen, ohne sich mit Essen vollzustopfen oder sich zu betrinken, nur weil der Wein umsonst ist.
Das Bild vom Festbankett spiegelt so manche Situation aus unserem Lebensalltag wider: Manche mögen frustriert denken, dass die besten Speisen immer an ihnen vorbeigehen – und können vor lauter Ärger über die Ungerechtigkeit des Lebens das üppige Mahl vor ihnen nicht genießen. Manch andere schielen vielleicht auf eine bestimmt Schüssel mit Spezereien, die sie dringend erreichen möchten – und nehmen gar nicht wahr, was in ihrer Reichweite vor ihnen steht. Die Stoa und der Zen-Buddhismus geben diesen Menschen dieselbe Empfehlung: achtsam zu sein auf das, was ihnen das Leben gegenwärtig an Möglichkeiten bietet. Man muss dem Leben nichts gewaltsam abringen, sondern kann sich – voll innerer Ruhe – ganz darauf einlassen. Ob man dann Erfüllung findet, hängt nicht von den äußeren Umständen ab, sondern von unserer Wahrnehmung der Umstände. Für unser Lebensglück ist nur die Perspektive entscheidend, mit der wir die Dinge betrachten, die uns täglich begegnen.
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