Eine gelungene, vertrauensvolle Beziehung zu anderen Menschen – ob Nachbarn oder Kollegen – aufzubauen, empfinden viele als schwierig. Die wohlmeinende Ratgeberliteratur zu einem „guten nachbarschaftlichen Verhältnis“ ist ebenso vielfältig wie die realen Gelegenheiten, einen handfesten Streit vom Zaun zu brechen. Vielleicht haben Sie die folgende Anekdote – so oder so ähnlich – selbst schon mal erlebt:
Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommen ihm Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Aber was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!“ (Aus: Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein)
Was den Menschen so einzigartig macht – seine Vorstellungskraft und Fantasie – bringt ihn immer wieder auch in Schwierigkeiten. Ständig spielt unser Gehirn mögliche Reaktionen unseres Gegenüber durch: Was ist, wenn sich die Kollegen über meine neue Frisur lustig machen? Was ist, wenn meine Projektidee vom Chef in der Luft zerrissen wird? Was ist, wenn das experimentelle Rezept meinen Freunden nicht schmeckt? Schon die antiken Stoiker kannten – als gute Beobachter der menschlichen Psyche – dieses Phänomen:
„Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen.“ (Epiktet)
Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass wir zumeist nicht auf tatsächliche Ereignisse in der äußeren Welt reagieren; wir reagieren vielmehr auf die Empfindungen in unserem eigenen Körper. Wir neigen dazu, alles, was uns begegnet, sofort zu interpretieren und zu bewerten. Und vor allem diese Bewertung ist es, die wesentlich zu unserer Beunruhigung beiträgt. Immer wieder entstehen auf diese Weise in unserer Vorstellung „Worst Case-Szenarien“, die uns emotional viel mehr belasten als es die Realität selbst könnte.
Hat man dies einmal erkannt, liegt die Lösung des Problems ziemlich nahe – nämlich einen Schritt zurückzutreten und die Angelegenheit aus etwas Distanz zu betrachten. In den meisten Fällen werden wir dann erkennen, dass der Auslöser – das tatsächliche Geschehen – ziemlich banal ist. Insbesondere wenn es – wie in unserer Anekdote – um eingebildete oder befürchtete Reaktionen unseres Gegenübers geht. Stoiker wollen solche Situationen nicht verharmlosen oder bloß abtun; sie möchten uns vielmehr motivieren, eine Grenzlinie auszuloten: Was ist tatsächlich belegbar objektives Geschehen – und wo beginnt meine Interpretation und mein Werturteil über das Geschehen, was ist vielleicht sogar reine Vorstellung, die gar nicht mehr mit der Realität übereinstimmt? Stoiker warnen davor, mit Unterstellungen – welcher Art auch immer – zu arbeiten! Denn unsere Vorstellungskraft kann uns immer wieder in eine Falle locken. Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Fantasie manipulieren! Bleiben wir wachsam! Manches ist leicht zu erkennen, aber manchmal muss man sorgfältig sezieren, was tatsächliches Geschehnis und was persönliche Bewertung ist. Und dies fällt umso schwerer, je mehr wir selbst betroffen und unmittelbar involviert sind. Jedoch wird ein Stoiker immer versuchen, diese wichtige Unterscheidung zu treffen!
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