Die „Weltbürgerbewegung“ wurde – laut Wikipedia – 1948 ins Leben gerufen und verbreitete den Aufruf an alle Menschen der Welt, sich zu „Weltbürgern“ zu erklären. Die Stoiker haben sich jedoch bereits vor 2.000 Jahren als Weltbürger und Teil einer Weltgemeinschaft gesehen. Dies ist umso erstaunlicher, als die Erde damals sehr viel weniger dicht besiedelt war und die allermeisten Menschen ihren Heimatort oder gar ihr Heimatland zeitlebens nie verlassen haben. Ein World Wide Web mit abrufbaren Informationen aus der gesamten Welt gab es damals nicht. Wie konnten sie sich als Weltbürger begreifen? Hierzu lassen sich verschiedene Ansätze in der Philosophie der Stoa entdecken:
Die Vernunft als das uns alle einende Band
Die Anhänger der Stoa waren sich in ihren Ansichten nicht immer einig. Jedoch haben sie immer darin übereingestimmt, dass der Vernunft eine überragende Bedeutung zukommt. Für die Stoiker ist die gesamte Welt von einer göttlichen Vernunft (dem Logos) vollständig durchdrungen und sinnvoll geordnet. Im Einklang mit der Natur zu leben heißt demnach, sich beständig auf die Vernunft als Leitstern für das eigene Handeln zu verlassen.
„Der Mensch, der in allen Dingen seiner Vernunft folgt, wird die nötige Muße haben und die Bereitschaft zu handeln – er ist zugleich heiter und gelassen.“ (Mark Aurel)
Ganz anders als das heutige Heer an Kulturpessimisten waren die antiken Stoiker davon überzeugt, dass alle Menschen von Natur aus zur Vernunft fähig, also vernunftbegabt sind. Diese Erkenntnis ist schon erstaunlich – noch erstaunlicher jedoch ist die daraus zu ziehende Konsequenz: Ihre Vernunftbegabung macht die Menschen nach Ansicht der Stoiker zu einer Universalgemeinschaft. Dementsprechend gelten die Menschen den Stoikern als von Natur aus soziale Wesen, die dazu geschaffen sind, in Gemeinschaft zu leben und sich gegenseitig in Wohlwollen zu unterstützen.
Die Erkenntnis, dass alles Leben in wechselseitiger Beziehung zueinander steht
Das Band natürlicher Zuneigung, das zu den eigenen Kindern besteht, lässt sich nach der stoischen Naturlehre auf die ganze Familie und darüber hinaus auf alle Menschen – als Brüder und Schwestern im Geiste bzw. als Mitbürger in einer Weltgemeinschaft – ausdehnen.
„Denke häufig über die Verflechtungen und Wechselbeziehungen aller Dinge im Universum nach. In gewisser Weise sind alle Dinge miteinander verbunden und einander wesensverwandt.“ (Mark Aurel)
Allen voran der römische Kaiser und Stoiker Mark Aurel ruft sich in seinen „Selbstbetrachtungen“ immer wieder in Erinnerung, dass selbst diejenigen, die ihm feindlich gesinnt sind, seine Brüder sind – nicht Brüder im Blute, aber seine Mitmenschen in der Universalgemeinschaft, die als soziale Wesen grundsätzlich das Potenzial haben, vernünftig zu denken und sich in Richtung Weisheit und Tugend zu entwickeln. Dies ist erstaunlich sozial gedacht (erst recht für einen römischen Kaiser)! Jedoch bedeutet es nicht, dass wir davon ausgehen sollten, dass uns jedermann freundlich gesinnt ist. Im Gegenteil, wir sollten darauf gefasst sein, immer wieder auf böse oder dumme Menschen zu treffen. Wir sollten sie jedoch als Chance betrachten, unsere Weisheit unter Beweis zu stellen und unsere Vernunft darauf verwenden, das Leben in der Gesellschaft besser zu machen.
„Auch wenn wir diejenigen, die uns feindselig gesinnt sind, nicht erziehen können, müssen wir zumindest lernen, sie zu tolerieren.“ (Mark Aurel)
Die Vorstellung, Teil der Einheit allen Lebens und Bestandteil von etwas Größerem zu sein
Das Selbstverständnis der Stoiker als Teil einer Weltgemeinschaft, ja sogar einer kosmischen Gemeinschaft, hängt schließlich wohl auch damit zusammen, dass das Weltbild der Stoa auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet ist. Nach ihrem Verständnis hängt alles mit allem zusammen.
„Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd. Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie derselben Welt.“ (Mark Aurel)
So sehen Stoiker ihr Leben als Teil der Natur und sich selbst als Bestandteil des Kosmos, dem sie entstammen und in den sie zurückkehren – als kleiner Teil eines ewigen Kreislaufs.
Leider hat sich diese ganzheitliche, weltbürgerliche Haltung der Stoiker während der letzten 2.000 Jahre bis heute noch zu wenig durchgesetzt.
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