Eine weit verbreitete Reaktion auf unsere alltäglichen Probleme ist die Flucht. Dabei fliehen wir nicht selten in Traumwelten, in eine Idylle, die aber nicht real und von Dauer ist. Stoiker raten von solchen Alltags-Fluchten ab, empfehlen jedoch, Distanz zu gewinnen – aber nicht um zu entfliehen, sondern – im Gegenteil – um einen besseren Blick auf sich selbst zu gewinnen!
Um dies zu trainieren, dient die antike Übung „Der Blick von oben“. Erstaunlich ist: Diese über 2.000 Jahre alte Technik hat auch heute noch ihre Relevanz in der kognitiven Psychotherapie. Sie dient vor allem dazu, um die Perspektive auf sich selbst und die eigenen Probleme zu verändern. Die Übung ist kontemplativ (weil das begriffliche Denken für eine Zeit lang abgeschaltet wird) und imaginativ (weil der Körper in Ruhe bleibt, während allein der Geist aktiviert wird).
Die Übung besteht darin, in der Betrachtung einer schwierigen Situation eine Sicht von oben – eine Vogelperspektive – einzunehmen oder sogar – mit noch weiterem Abstand – alles aus einem kosmischen Blickwinkel zu betrachten. Für diese Übung, die Sie überall in einer ruhigen Minute durchführen können, sitzen Sie entspannt auf einem Stuhl, vergegenwärtigen sich Ihre eigene Präsenz dort und lösen sich dann – imaginativ – von ihrem Körper. Sie treten aus sich heraus und betrachten sich und Ihre Umgebung aus immer größer werdendem Abstand. Sie schweben an die Decke und schauen auf sich selbst hinunter, Sie steigen weiter auf und erweitern die Perspektive immer mehr. Stellen Sie sich – möglichst bildlich – vor, wie Sie in der Selbstbetrachtung ständig weiter herauszoomen – aus dem Zimmer, dem Haus, der Stadt und dem Planeten bis in die Weiten des Kosmos. Und dann kommen Sie langsam wieder hinunter, bis Sie schließlich wieder bei sich selbst landen. Versuchen Sie es mal!
Diese Übung kann dabei helfen, unser Festklammern an den trivialen Dingen des Lebens zu lösen, indem wir unseren Geist über das Gewöhnliche und Banale hinaus bewegen und unsere Perspektive weiten. Wir regen uns dann weniger über die alltäglichen Dinge auf, wenn wir sie in einer winzig kleinen Ecke des Kosmos sehen.
„Betrachte das Universum, die Materie und wie wenig du daran Anteil hast. Denke an die Zeitläufe und wie kurz – nur ein Augenblick – dein Anteil daran ist. Denke an die Fügungen des Schicksals und wie unendlich klein deine Rolle darin ist.“ (Mark Aurel)
Ein anderer Effekt der Übung besteht darin, dass es uns anschließend leichter fällt, über die größeren Zusammenhänge zu reflektieren, die den Kosmos und unsere Welt wie auch uns erschaffen haben, und darüber nachzudenken, dass wir selbst nur ein Teil eines größeren natürlichen Entwicklungsprozesses sind. Dadurch werden viele unserer Probleme relativiert, die uns bisher aus persönlicher Sicht vielleicht riesengroß erschienen sind.
„Viele unnötige Anlässe zu Deiner Beunruhigung, die nur auf Deiner falschen Vorstellung beruhen, kannst Du aus dem Weg schaffen und Dir selbst unverzüglich einen weiten Spielraum eröffnen; umfasse nur mit Deinem Geiste das ganze Weltall, betrachte die ewige Dauer und dann wieder die rasche Verwandlung jedes einzelnen Gegenstandes; welch kurzer Zeitraum liegt zwischen der Entstehung und Auflösung der Geschöpfe; wie unermesslich ist die Zeit, die ihrer Entstehung voran ging, wie unendlich gleicherweise die Zeit, die ihrer Auflösung folgen wird.“ (Mark Aurel)
0 Kommentare