Die stoische Grundhaltung der Autarkie (nach dem heutigen Verständnis von Selbstständigkeit, Selbstbestimmung oder Selbstgenügsamkeit) kann – wie zuvor schon die Apatheia – leicht zu Missverständnissen führen. Denn Autarkie (αὐτάρκεια) bedeutet nicht, dass dem Stoiker die Meinungen und Ansichten anderer egal wären. Gleichgültigkeit ist nie ein Ideal der Stoiker gewesen. Im Gegenteil: Man sollte immer die Meinungen anderer einholen. Denn zu einer ausgewogenen vernünftigen Situationsanalyse, die dem Stoiker jederzeit angeraten ist, gehört auch die Berücksichtigung der Ansichten anderer, um ein realistisches Meinungsbild zu erhalten.
Allerdings sollte man nie Meinungen anderer ungeprüft übernehmen (indem man z.B. Vorurteile gegenüber Dritten verbreitet) oder sich von den Ansichten anderer abhängig machen (indem man z.B. Wohlverhalten zeigt, um Anerkennung zu erhalten). Dies klingt zunächst wie ein Gemeinplatz, wird aber – gerade in Zeiten von Social Media – schwierig, wenn in einer sozialen Gruppe Meinungen geteilt werden und ein Meinungsdruck entsteht, sich einer „herrschenden Meinung“ anzuschließen. Heute sind die meisten unserer Ansichten eher durch gemeinschaftliches Gruppendenken als durch individuelle Rationalitätt geprägt.
„Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr wir uns selbst lieben, aber viel mehr Wert auf die Meinungen anderer statt auf unsere eigenen legen. … Wie viel mehr Glauben schenken wir den Meinungen, die andere über uns haben, und wie wenig unseren eigenen!“ (Mark Aurel)
Autarkeia bedeutet, sich dem Meinungsdruck einer Mehrheit oder einer Gruppe, der ich gefallen möchte, nicht zu beugen. Es bedeutet, nicht auf Meinungsmache – ob im Netz oder in den Medien – hereinzufallen, sondern ein eigenständiges Denken zu pflegen (orientiert an Logik und Vernunft als den Grundpfeilern der Stoa). Wir brauchen uns nicht ständig mit anderen Menschen zu vergleichen; wir müssen nicht mit jeder neuen Information ständig unsere Einschätzung verändern. Gelassenheit und innere Ruhe findet nur, wer seinen Weg erkennt und ihm treu bleibt. Autarkeia bedeutet daher vor allem auch, dass der persönlichen Integrität der höchste Stellenwert eingeräumt wird.
Das stoische Ideal der Autarkie sollte – umgekehrt – nicht dazu führen, dass man sich nur noch auf sich selbst konzentriert und sich von seiner Umwelt distanziert. Auch ein Stoiker kann und soll menschliche Beziehungen aufbauen. Jede Beziehung – ob Partnerschaft, Familie oder Freundschaft – führt naturgemäß zu Abhängigkeiten. Insofern lebt auch der Stoiker immer in einem natürlichen Spannungsverhältnis zwischen seinem sozialen Leben und der Unabhängigkeit seines eigenen Wesens. Die Stoa fordert ihn auch nur dazu auf, sich bestehende Abhängigkeiten bewusst zu machen und sich davon nicht vereinnahmen zu lassen. (Wahre Liebe und Freundschaft sollte allerdings auch nicht darauf angelegt sind, zu manipulieren oder zu vereinnahmen.)
Autarkeia verlangt nicht nur Unabhängigkeit von den Meinungen anderer, sondern ermutigt auch zur Unabhängigkeit von den eigenen (!) inneren Verkrustungen. Ein Stoiker muss immer wieder dazu bereit sein, sich selbst und die eigenen Prinzipien zu hinterfragen, sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen und ggf. abzuändern. Ein Stoiker wird daher nie an starren Ideologien festhalten und sich von fundamentalistischen Ansichten jeder Art freimachen. So wurden auch die Lehren der Stoa im Laufe der Jahrhunderte immer wieder hinterfragt und angepasst. Massimo Pigliucci nennt die Stoa „eine Philosophie mit offenem Ausgang“ und meint: „In einer Welt des Fundamentalismus und der starren Lehrmeinungen kann eine Weltsicht, die von Natur aus offen für Korrekturen ist, nur erfrischend sein.“ Wohl wahr!
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