„Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen. Er steht fest und dämpft die Wut der ihn umbrausenden Wogen.“ (Mark Aurel)
Übungs-Raum
Unser Verhältnis zu Emotionen
Bevor wir uns den Emotionen im Einzelnen zuwenden, sollten wir zunächst das Verhältnis der Stoa zur Emotionalität klären.
Für die Stoa sind Emotionen kein moralisches Fehlverhalten. Emotionen wie Zorn, Neid und Habgier werden von Stoikern nicht als Sünden angesehen, die per se schlecht und zu verurteilen sind (während die katholische Kirche sie sogar als „Todsünden“ bezeichnet). Emotionen stehen „nur“ einer vernunftgemäßen Betrachtung im Weg und erschweren damit tugendhaftes Verhalten. Wenn wir unser volles Potenzial entwickeln und damit Zufriedenheit im Leben gewinnen wollen, erweisen sich manche Emotionen – nach dem Verständnis der Stoiker – oftmals als Hemmschuh oder (bildlich) als Sand im Getriebe. Der „richtige“ Umgang mit Emotionen ist daher keine Frage der Moral, sondern der jeweiligen Gegebenheiten und kann – vor allem durch Selbsterkenntnis – gelernt werden. Der Stoiker verteufelt somit Emotionen nicht, sondern er trainiert den richtigen Umgang mit ihnen, damit sie ihn auf dem Weg zur Tugend nicht unnötig behindern.
Problematisch ist für den Stoiker vor allem die manipulative Macht von Emotionen, die es – oft unbewusst – ermöglicht, dass die Realität durch unsere Vorstellung überlagert wird, so dass wir nicht mehr vernünftig handeln können. Wer schon einmal panikartige Angst gespürt hat, weiß wie schwer es ist, dann noch einen klaren Gedanken zu fassen. Und wer schon einmal „gerechten“ Zorn in sich gefühlt hat, weiß mit welcher Macht Gewaltphantasien an die Oberfläche drängen können. Schließlich gibt es sicher auch niemanden, der nicht schon einmal Heißhunger verspürt und ihm wider alle Vernunft nachgegeben hat. Die Stoa hat natürlich keinen Masterplan für den Umgang mit allen Emotionen. Aber sie hält ihren Schülern die Wirkung von Emotionen immer wieder mahnend vor Augen und hält sie dazu an, sich im Alltag durch Übungen darauf einzustellen.
Lerne deine Gefühlswelt kennen …
Es mag paradox klingen, ist es aber nicht: Die Stoa ermutigt uns, in uns hineinzuhorchen und – mit analytischer Distanz und nicht wie die erschreckten Gaffer bei einem Verkehrsunfall – unsere Gefühlsreaktionen, ihre Auslöser und Abläufe zu beobachten. Emotionen gehen in der Regel Reize, Impulse und Signale voraus, auf die wir achten und die wir „lesen“ lernen sollten. Zwar gibt es keinen starren Automatismus zwischen Impuls und Reaktion, aber wenn wir uns selbst gut kennen, werden wir frühzeitig das Aufkommen von Emotionen bemerken und zumindest verhindern können, dass sie uns kontrollieren oder manipulieren.
… und sei auf Gefühlsausbrüche vorbereitet
Ob sich Gefühle kontrollieren lassen, ist meist keine Frage des Moments, sondern eine Frage guter Vorbeugung. Denn oft ist es bereits zu spät, wenn wir eine emotionsgeladene Situation auf uns zukommen lassen und erst dann, wenn der „Auslöser“ betätigt ist, das natürliche Reiz-Reaktions-Schema zu durchbrechen versuchen. Stoiker werden sich vielmehr langfristig und planvoll darauf vorbereiten, wie sie die manipulative Macht ihrer eigenen Emotionen erkennen und vermeiden können. Versuchen Sie es! Sie werden selbst auf gute Ideen kommen, wie sich manche Ihrer Emotions-Auslöser vermeiden lassen. Außerdem können Sie bei langfristiger Planung auch die Macht der Routine nutzen (indem Sie etwas stur immer wiederholen) oder die Kraft sozialer Kontrolle einsetzen (indem Freunde oder Partner als „Aufpasser“ fungieren.)
Umgang mit Zorn und Wut
Zorn und Wut sind Emotionen, die uns – in der einen oder anderen Form und Intensität – im Alltag immer wieder überkommen. Der Umgang mit ihnen ist nicht leicht. Denn das besondere Problem dabei ist: Die Wut und den Zorn herauszulassen, fühlt sich richtig gut an! Es verschafft kurzfristig Erleichterung. Wie bei einem Mückenstich tut das Kratzen zunächst gut; es erfolgt fast automatisch, ohne dass wir realisieren, dass dadurch der Juckreiz nur verstärkt bzw. verlängert wird. Dies geschieht oft mehrfach am Tag, vielfach sogar ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Erst recht und besonders gilt dies, wenn wir glauben, in „gerechtem Zorn“ zu handeln. Kaum etwas fühlt sich so großartig an, als wenn wir uns völlig im Recht fühlen und ein vermeintlich begangenes Unrecht anklagen, indem wir ein menschliches Gegenüber – das das Unrecht personifiziert – unseren ganzen Zorn spüren lassen. Das kann ganz banal beginnen – z.B. im Straßenverkehr: Dort richtet sich unser Zorn oftmals schnell auf andere Autofahrer, die sich nicht so verhalten, wie wir es für richtig halten. Je nach Stimmung bzw. Stresspegel können sich Zornausbrüche im Laufe einer kurzen abendlichen Autofahrt vom Büro nach Hause regelrecht aufschaukeln – bis zu lautem Schreien und wilden Gestikulieren. Dabei ist das Verrückte an der Situation, dass es an Deutlichkeit nicht zu überbieten ist, dass unser „gerechter Zorn“ aus dem hermetisch abgeriegelten Fahrzeug gar nicht zu den anderen Verkehrsteilnehmern durchdringt. Und selbst wenn es das – in Form der Hupe – doch tut, besteht keinerlei Chance, dass sich die Situation in unserem Sinne ändert. Dies zeigt bildhaft die Sinnlosigkeit der Emotion Wut, die am Ende nichts anderes bewirkt, als dass die Lebensqualität sinkt. Dabei wäre es ohne weiteres möglich, die im Auto verbrachte Zeit zu genießen. Warum fällt uns das – immer wieder – so schwer?
Stoiker behaupten nicht, dass sie ein schnell wirkendes Allheilmittel an der Hand haben. Aber man kann durch stetiges Üben eine Einstellung gewinnen, die verhindert, dass uns Wut oder Zorn beherrschen, und die es ermöglicht, zunehmend Kontrolle (zurück) zu gewinnen. Entscheidend dafür ist ein selbstkritischer distanzierter Blick auf uns selbst, mit dem wir die Anlässe und Auslöser von Wut oder Zorn erkennen und einordnen können. Um die richtige Einstellung zu erlangen, sind drei grundlegende Erkenntnisse der Stoiker hilfreich.
Erkennen, dass man sich selbst am meisten schadet
Die wichtigste und schwierigste (Selbst-) Erkenntnis ist, dass Wut oder Zorn nie zu einer Verbesserung der Situation führen. Dem Stau ist es egal, wenn man sich in seinem Auto ärgert, dass es nicht weitergeht. Dem Bus ist es egal, wenn man sich ärgert, ihn knapp verpasst zu haben. Dem Wartezimmer ist es egal, wenn man sich ärgert, länger in ihm zu sitzen als geplant.
„Gib den äußeren Umständen nicht die Macht, deinen Ärger zu provozieren, denn ihnen ist es völlig egal.“ (Mark Aurel)
Dies gilt auch, wenn nicht abstrakte Umstände, sondern konkrete Menschen Gegenstand des Ärgers sind. Denn selbst wenn es sich zunächst „gut anfühlen“ mag, anderen mal so richtig eine Standpauke zu halten, ist der Nutzen tatsächlich gering und der Schaden für uns selbst hoch, nicht nur für die Gesundheit, sondern generell für die Lebensqualität.
„Der Zorn und Kummer, den wir durch die Handlungen der Menschen empfinden, sind härter für uns als diese Handlungen selbst, über die wir uns erzürnen und betrüben.“ (Mark Aurel)
Wir haben es durch unsere Reaktion selbst in der Hand, ob eine Situation eskaliert. Wenn wir beispielsweise eine Äußerung als persönliche Beleidigung verstehen und die Stimme erheben, um wütend zum Gegenschlag auszuholen oder verärgert zur Selbstverteidigung anzusetzen, dann – und erst dann – wird tatsächlich eine Beleidigung im Raum stehen, die nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen ist. Durch unsere wütende Reaktion richten wir also selbst Schaden an – was vermeidbar wäre.
„Denke daran: Nicht derjenige, der es auf dich abgesehen hat und dich angreift, schadet dir – nein, der Schaden entsteht erst dadurch, wie du über diese Misshandlung denkst. Wenn also jemand deinen Ärger hervorruft, bedenke, dass es deine eigene Meinung ist, die den Ärger entfacht. Stattdessen sollte deine erste Reaktion sein, dass du dich von solchen Eindrücken nicht überwältigen lässt, denn mit genug Zeit und Distanz wird Selbstbeherrschung viel einfacher erlangt.“ (Epiktet)
Erkennen, dass andere es nicht besser wissen
Wenn wir erst einmal erkannt haben, dass wir uns durch Wut und Zorn selbst am meisten schaden, ist der erste Schritt getan. Im zweiten Schritt richten wir den Blick auf unser Gegenüber, um zu erkennen, dass es der andere oft nicht besser weiß. Für die Stoiker sind alle Menschen potenziell vernunftbegabt, handeln aber aus Unwissenheit oder mangelndem Nachdenken immer wieder unvernünftig. Insbesondere Mark Aurel, der Stoiker-Kaiser, plädiert daher dafür, Fehlverhalten mit Nachsicht, nicht mit Zorn zu begegnen. Während seiner Amtszeit war er oft in Situationen, in denen sich andere Menschen ihm gegenüber anmaßend oder feindlich verhielten, so dass er Emotionen wie Wut oder Ärger fühlte. In diesen Situationen erinnert er sich selbst daran, dass ihr Verhalten daher kommt, dass sie nicht wissen, was im Leben wirklich zählt und dass sie, wenn sie ein besseres Verständnis davon hätten, so nicht handeln würden. Das verringert den Ärger. Zudem hilft die Vorstellung, dass man selbst nicht ohne Fehler ist.
„Wenn dir jemand etwas antut, überlege sofort, ob er dabei Gutes oder Schlechtes im Sinn hat. Wenn du das erkannt hast, wirst du Mitleid haben, anstatt dich zu wundern oder wütend zu sein. Vielleicht hast du dieselbe oder eine ähnliche Auffassung von Gut du Böse, sodass du ihm seine Tat verzeihen kannst. Wenn du aber nicht derselben Auffassung bist, wirst du eher bereit sein, gegenüber seinem Fehler nachsichtig zu sein.“
„Wann immer du dich über die Fehler von jemandem ärgerst, richte deine Aufmerksamkeit sogleich auf ähnliche Fehler, die dir selbst unterlaufen sind – etwa Geld oder Freuden oder Ruhm als erstrebenswertes Gut anzusehen – oder was auch immer es sei. Wenn du darüber nachdenkst, wird dein Ärger schnell verfliegen. (Mark Aurel)
Erkennen, dass Zorn sich leicht verselbständigen kann
Viele Menschen haben sich damit abgefunden, dass Ärger zu ihrem Leben gehört und finden es ganz normal, wenn mal „die Fetzen fliegen“. Dies ist aber ein Irrtum. Wir sollten uns nicht an Wut und Zorn als festen Bestandteil unsers Lebens gewöhnen. Denn sie können sich leicht verselbständigen. Und wenn wir einmal ein gewisses Wut-Niveau bei uns akzeptiert haben, kann diese leicht entzündliche Emotion von diesem Nährboden aus wachsen und unkontrolliert aufflammen – wie ein Bündel Reisig im Feuer.
„Wenn du zornig wirst, so bedenke, dass dir nicht nur dieses Übel widerfahren ist, sondern dass du auch deine Neigung zum Zorn verstärkt hast, dass du gleichsam dürres Holz ins Feuer geworfen hast. (Epiktet)
Besonders problematisch ist, dass sich Wut und Zorn leicht zu Gewalt auswachsen können. Jeder Gewaltakt beginnt mit einem von Wut oder Zorn erzeugten gewalttätigen Wunsch in irgendjemandes Kopf, der den Seelenfrieden dieses Menschen stört, bevor er den Frieden von irgendjemand anderem zerstört.
„Es gibt nichts, was einen mehr betäubt als Wut. Nichts ist so sehr auf seine eigene Kraft fokussiert. Wenn sie Erfolg hat, ist nichts so arrogant, wenn sie scheitert, ist nichts so wahnsinnig. Da sie selbst in der Niederlage nicht an Kraft verliert, greift die Wut sich selbst an, wenn das Schicksal ihr den Feind entzieht.“ (Seneca)
Was ist also zu tun? Um Ataraxia, Gemütsruhe, zu erlangen, geht es nicht darum, Wut oder Zorn zu unterdrücken. Dies ist so unnütz wie ein Deckel auf einem immer heißer werdenden Topf. Vielmehr sollten wir versuchen, aufkommende Gefühle wie Wut und Zorn frühzeitig wahrzunehmen und darüber nachzudenken, woher sie kommen.Wenn es uns gelingt, einen Schritt zurückzutreten und die Anlässe bzw. Ursachen eines Wutausbruchs zu reflektieren, dann erkennen wir schnell, wie sinnlos dies alles ist – der Zorn auf einen Stau im Verkehr ebenso wie auf eine Wartezeit beim Arzt, eine Verspätung des Zugs oder einen kaputten Automat.
Vielleicht probieren Sie auch einmal aus, Humor als Mittel gegen Wuteinzusetzen. Anstatt über Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen wütend zu werden, lässt sich manchmal über die Situationskomik eines verkorksten Augenblicks lachen. Stellen Sie sich dazu – möglichst bildlich – vor: Sie stehen als Schauspieler auf der Bühne eines absurden Theaterstücks, umgeben von Mitspielern, die ein Drehbuch voller Zufälle, Pannen und Peinlichkeiten aufführen. Wenn man dieses Stück als Realität begreift, müsste man erzürnen, als Zuschauer eines Theaterstücks wird man über seine Absurditäten vielleicht schmunzeln können. Man erkennt: Die Stoa fordert uns – um eine stoische Einstellung zu finden – immer wieder zu einem Wechsel der Perspektive auf.
Umgang mit Angst und Furcht
Neben Wut und Zorn sind vor allem Angst und Furcht alltägliche Emotionen, die uns das Glück in unserem Leben vergällen können. Zählen Sie selbst einmal nach: Es gibt in unserem Alltag so viele Formen von Angst – Versagensangst, Angst zu spät zu kommen, Flugangst, Angst vor einem Arztbesuch, Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle, allgemeine Zukunftsangst etc. – dass unser Leben davon maßgeblich (mit-) bestimmt wird. Das stoische Ideal der „Gemütsruhe“ (Ataraxia) kann in diesen Fällen bei richtiger Einübung Erleichterung bringen (natürlich nicht bei krankhaften Angststörungen, die einer therapeutischen Behandlung bedürfen).
Angst und Furcht sind eigentlich natürliche und nützliche Reaktionen, wenn wir uns in einer realen Gefahrensituation befinden (und wir uns z.B. durch einen Fluchtreflex in Sicherheit bringen können). Echte Gefahrensituationen gibt es für Mitteleuropäer aber nur noch selten. Unsere Ängste werden daher zunehmend von Sorgen genährt, die sich auf die Zukunft richten. Oft sind sie auf (mehr oder weniger) unbestimmte künftige Ereignisse fixiert. Wir sorgen uns um das Wetter für die Gartenparty, um den Verlauf einer Reise, um das allgemeine Wohlbefinden der Kinder oder um das Gelingen eines beruflichen Aufstiegs. Ein gewisses Maß an Sorge ist nur natürlich. Entscheidend ist aber, sich von den ersten spontanen Eindrücken nicht überwältigen oder gefangen nehmen zu lassen. Manche Menschen können nicht aufhören, sich zu sorgen und über eine wahrgenommene Gefahr zu grübeln oder zu klagen. Für den Umgang mit solchen (Zukunfts-) Ängsten haben Stoiker verschiedene Methoden entwickelt, von denen drei wichtige im Folgenden genannt seien.
Seien Sie bestmöglich vorbereitet, aber gleichmütig gegenüber dem Ergebnis!
Wenn sich Menschen vor zukünftigen Ereignissen ängstigen, nutzt es wenig, ihnen zu raten, sie sollten sich beruhigen. Stoiker waren noch nie Vertreter einer „Hände in den Schoß legen“- Politik. Im Gegenteil: Tatsächlich raten Stoiker, wenn ein schwieriges Ereignis bevorsteht, das uns Angst einflößt (sei es eine Reise oder eine Prüfung oder ein Auftritt oder ein Wettbewerb), die Ärmel hochzukrempeln und sich so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Wenn man die Situation gut durchdenkt, wird man viele Ideen entwickeln, was zur Vorbereitung hilfreich ist. Das Entscheidende ist jedoch: Stoiker treffen die Vorbereitungsmaßnahmen gewissenhaft, aber immer verbunden mit dem Vorbehalt: Sobald alles getan ist, was sinnvoll und möglich ist, muss einem das Ergebnis egal sein! Es gibt kaum etwas, was so beruhigend ist, wie das Wissen, alles getan zu haben, was in der eigenen Macht steht. Denn dann kann man das Ergebnis ruhig und gleichmütig auf sich zukommen lassen.
Versuchen Sie, Probleme zu „entkatastrophieren“ und auf ein realistisches Maß herabzustufen!
Eine der wichtigsten stoischen Regeln ist die Unterscheidung zwischen einem objektiven Ereignis und dessen subjektiver Beurteilung. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es in der Regel nicht das zukünftige Ereignis selbst ist, vor dem wir uns fürchten müssen, sondern unsere subjektive Beurteilung und Vorstellungskraft das Ereignis zu dem macht, was uns ängstigt. So kann es sogar geschehen, dass wir vor ganz unbestimmten Ereignissen Angst empfinden, obwohl von ihnen objektiv (noch) gar keine Bedrohung ausgeht.
„Es sind nicht die Ereignisse, die Menschen beunruhigen, sondern deren Beurteilungen. (Epiktet)
„Wenn du wegen eines Ereignisses verzweifelt bist, ist es nicht die Sache selbst, die dir Sorgen bereitet, sondern nur, wie du sie beurteilst. Diese Beurteilung kannst du von jetzt auf gleich löschen.“ (Mark Aurel)
Das Fatale bei der Emotion „Angst“ ist, dass sie umso mächtiger ausfallen kann, je weniger wir selbst in der Lage sind, aktiv Einfluss zu nehmen. Die Stoa ermahnt uns dagegen, den Dingen nicht zu viel Beachtung zu schenken, die nicht in unserer Macht liegen.
„Wenn ich einen ängstlichen Menschen sehe, frage ich mich, was will diese Person? Denn wenn sie nicht etwas wollte, was außerhalb ihrer persönlichen Macht ist, warum sollte sie dann so ängstlich sein?“ (Epiktet)
Leider neigen wir dazu, ungewisse Ereignisse in der Zukunft zu überdramatisieren und sie vorschnell zu Worst Case-Szenarien oder einer Katastrophe zu erklären. Wir müssen in diesen Fällen herunterkühlen und auf Distanz gehen. Donald Robertson (Stoa-Autor und Psychotherapeut) empfiehlt angehenden Stoikern zur Schaffung einer „kognitiven Distanz“, immer wieder „ganz bewusst zu üben, Dinge objektiv und unemotional zu beschreiben. Sich strikt an Fakten zu halten, kann allein schon Ängste besänftigen.“ „Vermeiden Sie vor allem das Schwelgen in Worst Case-Szenarien“. „Verzichten sie auf starke Werturteile oder eine emotionale Sprache und beschreiben Sie die Lage neutral und faktenbasiert“. Dies wird als „entkatastrophieren“ bezeichnet, indem Ereignisse von einer „völligen Katastrophe“ auf ein realistisches Maß heruntergestuft werden.
Richten Sie den Fokus von der unbestimmten Zukunft auf eine planbare Gegenwart!
Stoiker sehen ein probates Mittel gegen Zukunftsängste auch darin, sich stärker auf die Gegenwart zu konzentrieren. Denn die Zukunft liegt außerhalb unserer Kontrolle und wird zudem – wie wir gesehen haben – durch unsere Vorstellungskraft oftmals „aufgebauscht“. Der Fokus auf die Gegenwart ermöglicht uns dagegen eine realistischere Einschätzung, was wir beeinflussen können und was nicht. Achten Sie daher auf Ihrem Lebensweg mehr auf das, was direkt vor Ihnen liegt, und weniger auf das, was vielleicht hinter der nächsten Kurve kommen könnte. Wagen Sie es, auf Sicht zu fahren.
„Lass dich nicht von einem Blick auf die ganze Bandbreite des Lebens erschrecken. Fülle deinen Kopf nicht mit Gedanken an all die schlimmen Dinge, die noch passieren könnten. Konzentriere dich auf die Gegenwart und frage dich, warum du sie so unerträglich findest und wie du sie überleben kannst.“ (Mark Aurel)
„Hör auf zu hoffen und du wirst aufhören, dich zu ängstigen. Die primäre Ursache beider Befindlichkeiten ist, dass wir in Gedanken schon zu weit voraus sind, anstatt uns den gegebenen Umständen anzupassen.“ (Seneca)
Die Konzentration auf das Gegenwärtige gelingt durch die stoische Grundhaltung der Achtsamkeit (Prosoché). Diese Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment ist eine wichtige Voraussetzung, um mit Sorgen und Ängsten vor unbestimmten Ereignissen in der Zukunft umgehen zu können. Denn durch Achtsamkeit auf das Hier und Jetzt erfahren wir, was wir schon erreicht haben und wofür wir zutiefst dankbar sein können. Außerdem sind wir besser in der Lage, die als Nächstes anstehenden Schritte zu bedenken und dadurch unsere Zukunftsängste wirkungsvoll einzuhegen.
Umgang mit Sehnsüchten und Begierden
Sehnsüchte und das Streben nach einem besseren Leben bestimmen unseren Alltag: „Wenn ich erst aus der Schule raus bin…“ „Wenn erst meine Gehaltserhöhung durch ist …“ „Wenn ich erst die Abschlussprüfung geschafft habe …“ „Wenn erst mal meine Diät anschlägt … dann werde ich glücklich sein!“ Das reden wir uns immer wieder ein. Mit der Sehnsucht im Herzen, andere zu beeindrucken oder bewundert zu werden, jagen wir einem zukünftigen – unerreichbaren – Glück nach und verpassen die Chance, mit dem, was wir haben, im Hier und Jetzt glücklich zu sein.
„Es ist nicht möglich, Glück zu empfinden, wenn wir uns gleichzeitig nach etwas sehnen, das wir nicht haben.“ (Epiktet)
Ähnlich ist es mit der Begierde nach Dingen, die unser Leben angeblich bereichern – eine größere Wohnung, ein neues Auto, eine Fernreise u.v.m. Solchen Begierden nachzugeben, löst ein (vermeintlich) gutes Gefühl aus, z.B. beim Einkaufen von Dingen, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Mit Sehnsüchten und Begierden ist es insofern wie mit Wut und Zorn: Es vermittelt kurzfristig ein gutes Gefühl, sie herauszulassen. Und sie können sich leicht hochschaukeln. Wir kennen das: Sobald wir in einem Kaufhaus ein Teil erstanden haben, fällt es viel leichter, ein zweites oder drittes Teil zu kaufen. Dies macht vor allem eines deutlich: unsere Abhängigkeit. Aber die Befriedigung, die aus einer Abhängigkeit erfolgt, kann nicht zu einer dauerhaften Zufriedenheit im Leben führen.
Unsere Sehnsüchte und Begierden sollten wir – wie alle Emotionen – nicht zu unterdrücken versuchen. Der Schlüssel zu ihrer Kontrolle liegt darin, sich bewusst zu machen, woher sie kommen. Nicht selten sind Begierden (z.B. nach einem schönen Kleidungsstück oder einer Süßigkeit) nur Ersatzhandlungen, mit denen wir uns selbst belohnen wollen oder die uns von etwas ablenken sollen. Auch unsere Sehnsucht nach Anerkennung und die ständigen Versuche, andere zu beindrucken, signalisieren, dass es uns oft an etwas ganz anderem fehlt. Angehende Stoiker sollten daher sehr genau auf die Ursprünge ihrer Sehnsüchte und Begierden achten.
„Solltest du jemals deinen Willen auf etwas richten, das nicht in deiner Macht steht, um jemand anderen zu beeindrucken, dann sei versichert, dass du damit den Sinn deines Lebens zunichtemachst.“ (Epiktet)
Aber was ist mit „gesundem Ehrgeiz“? Gibt es nicht Dinge, nach denen es sich zu streben lohnt? Ist nicht z.B. Frieden ein überaus erstrebenswertes Ziel, das uns mit Sehnsucht erfüllen SOLLTE? Oder die Bildung unserer Kinder? Dazu sagt der Stoa-Lehrer Epiktet:
„Denke daran, dass es nicht nur unser Verlangen nach Reichtum und Erfolg ist, das uns unterjocht und erniedrigt, sondern auch das Verlangen nach Frieden, Freizeit, Reisen und Bildung. Um welches Objekt es sich handelt, ist egal – es ist der Wert, den wir einer Sache beimessen, der uns unterwürfig macht. … Wo unser Herz hinstrebt, das ist unsere Bürde.“ (Epiktet)
Das ist harter Tobak! Daher sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert: Der Umgang mit Emotionen wie Sehnsüchten und Begierden ist für die Stoiker keine Frage der Moral. Sehnsüchte sind nicht nur dann problematisch, wenn sie auf den „schnöden Mammon“ gerichtet sind. Vielmehr ist alles Sehnen problematisch, denn es offenbart unsere inneren Abhängigkeiten. Daher sollten wir uns mit Blick auf die eigenen Sehnsüchte immer Klarheit darüber verschaffen: Kontrolliere ich sie oder kontrollieren sie mich? Deshalb ist es auch so wichtig, wachsam zu sein und die eigenen Wünsche und Begierden zu identifizieren. Nur wenn dies gelingt und Sie sich über ihre Ursprünge klar sind, können Sie sie überwinden. Viele „kleine“ Begierden laufen fast schon automatisiert ab und bleiben unter dem Radar. Im Umgang mit ihnen müssen Sie lernen, wie Sie frühe Warnsignale erkennen, und üben, wie Sie innehalten und sich innerlich davon distanzieren können. Diese Übung ist alles andere als leicht, aber wenn Sie nicht aufgeben, ist sie mit stoischer Gelassenheit zu bewältigen.
Umgang mit Neid und Eifersucht
Neid ist der Wunsch, selbst etwas zu erlangen, was andere bereits haben. Es ist insoweit eine weit verbreitete und fast schon normale soziale Emotion. Neid gibt es zwischen Kollegen um beruflichen Erfolg, zwischen Geschwistern wegen einer Bevorzugung durch die Eltern oder zwischen Nachbarn um den neuen Swimmingpool im Garten. Besonders problematisch ist sie aber in ihrer destruktiven Form, der Missgunst, bei der man möchte, dass andere die Dinge, um die man sie beneidet, verlieren.
Neid ist auch bei Eifersucht im Spiel, wenn jemand sich mit seinem „Rivalen“ vergleicht und eifersüchtig ist auf dessen Aussehen, Beliebtheit oder Liebesbeziehung. Die Eifersucht richtet sich gegen eine Person, die (vermeintlich oder tatsächlich) Zuneigung bekommen hat, die man sich selbst wünscht.
Noch einmal sei erwähnt, dass Neid für Stoiker keine „Sünde“ darstellt. Aber Neid steht der Eudaimonia, einem erfüllten Leben, entgegen. Denn wer neiderfüllt ist und anderen etwas nicht gönnt, verspürt Gefühle von Ärger bis hin zu Wut, Feindseligkeit und Hass, die die Seelenruhe nachhaltig stören (die eigene wie die der anderen). Wer neidisch ist, kann auch nicht wertschätzen und genießen, was er bereits besitzt, und zerstört seine Lebenszufriedenheit. Insbesondere das ständige Vergleichen mit anderen führt zu Selbstwertverlust; man bemitleidet sich und fühlt sich anderen unterlegen.
Um Neid und Eifersucht entgegenzuwirken, sollte der angehende Stoiker – wie bei allen Emotionen – bei sich selbst Ursachenforschung betreiben und in sich hineinhorchen, was wirklich hinter einem auftretenden Eifersuchtsgefühlsteckt. Liegt es etwa daran, dass der Mann, mit dem die Partnerin gerade lacht, in den eigenen Augen eine tolle Figur hat – während man sich selbst übergewichtig findet? Oder ist die Partnerin eifersüchtig, weil ihr Mann sich angeregt mit einer anderen unterhält, die einen Doktortitel trägt – den man selbst nur zu gerne hätte? Nur wenn man seine Gefühle richtig einordnen kann, kann man sie auch kontrollieren.
Ebenso wichtig sind auch präventive Maßnahmen, damit von vornherein möglichst selten Gefühle von Neid und Eifersucht aufkommen. Dazu sollten Sie vor allem falsche Vergleiche vermeiden. Und Sie sollten keinen übertriebenen Erwartungen anhängen.
„Erwarte nicht, dass die Dinge so laufen, wie du es dir wünschst, sondern wünsche, dass alles so kommt, wie es dann tatsächlich passiert – und dein Leben wird mühelos verlaufen.“ (Epiktet)
Eine gute Übung gegen Neid und Eifersucht ist es auch, sich das Gute im eigenen Leben sowie die eigenen Werte immer wieder bewusst zu machen und Dankbarkeit dafür zu empfinden. Wer das, was er im Leben erlangt hat, wahrhaft wertschätzt, kann auch anderen ihr Glück gönnen und wird nicht von Neid und Eifersucht in seinem Seelenfrieden gestört.